Ein Minimalreiz habe genügt, „um beim einzelnen den Schalter umzulegen und ihn Dinge als Bedrohung empfinden zu lassen, die völlig harmlos sind“, sagt der Sprecher der Münchner Polizei, Marcus da Gloria Martins, der den Einsatz begleitete. „Das waren zum Beispiel herunterfallende Tabletts in einer Gaststätte oder eine umstürzende Aluleiter in einem Geschäft.“ Beides sei als Schüsse interpretiert worden. Er spricht von einem kollektiven Phänomen. Am frühen Morgen konnte die Polizei Entwarnung geben, die Lage beruhigte sich.
Am Nachmittag des 22. Juli setzt sich David S. aufs Fahrrad. Er fährt zum OEZ, um seinen monatelang vorbereiteten Plan in die Tat umzusetzen. Eine Pistole vom Typ Glock 17 und mehrere Hundert Schuss Munition hat er im Rucksack. Eine Stunde schaut er sich im McDonald's am OEZ um. Dann geht er auf die Sitznische zu, in der Armela und ihre Freunde sitzen. Er kennt sie nicht. Er feuert. Die 14-Jährige und vier etwa Gleichaltrige sterben, nur ein 13-Jähriger überlebt. Dann läuft David S. ins OEZ, feuert weiter. Die Ermittler finden später knapp 60 Patronenhülsen, die aus seiner Pistole stammen.
Der Hass des psychisch kranken Schülers richtete sich den Ermittlern zufolge gegen Jugendliche, die von Alter, Aussehen, Herkunft und Lebensstil denen ähnelten, die ihn über Jahre gemobbt und gedemütigt hatten: junge Menschen mit südosteuropäischen Wurzeln. Dazu zählten Armela, deren Familie aus dem Kosovo stammt, und ihre Freunde.
David S. hat selbst iranische Wurzeln. Sein Vorbild war unter anderem der rechtsextremistische norwegische Massenmörder Anders Breivik. Bei einem Klinikaufenthalt zeichnete er Hakenkreuze und zeigte den Hitlergruß. „Ich bin Deutscher“, rief er nach den tödlichen Schüssen. Dennoch blieben die Ermittler bisher bei dem Schluss, dass sein Motiv persönliche Kränkung durch jahrelanges Mobbing war. Zum Jahrestag mehren sich die Hinweise auf krude Fantasien des 18-Jährigen, aber auch auf eine rechtsextremistische Gesinnung.
Der „Spiegel“ berichtet über Chatprotokolle, die rassistische Terrorfantasien offenbaren, in die sich David S. vor dem Amoklauf verstiegen haben soll. In den Chats, in denen er den Ermittlungen zufolge wahrscheinlich mit sich selbst kommunizierte, heißt es: „Wir treffen mit nur einer Bombe sehr viele Drogen-Kanaken.“
Die „Bild“-Zeitung hatte vor einer Woche über Dateien vom seinem Computer berichtet. „Das Mobbing wird sich heute auszahlen. Das Leid was mir zugefügt wurde, wird zurückgegeben“, schrieb er demnach und speicherte die Botschaft am 22. Juli 2016 um 15.38 Uhr in einer Datei mit dem Titel „Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer.“ Um 17.51 Uhr gab er den ersten Schuss auf Armela ab.
Der SPD-Abgeordnete Florian Ritter plädierte wie schon die Grünen dafür, die politische Motivation stärker bei der Bewertung der Tat zu berücksichtigen. Sogar die Behörden hätten festgestellt, dass David S. seine Opfer nach seinem rassistischen Menschenbild ausgewählt habe.
Ob der Prozess gegen den mutmaßlichen Verkäufer der Waffe ab Ende August neue Einblicke in den Radikalisierungsprozess von David S. bringt, ist offen. Laut „Spiegel“ soll auch er rechtsextremistische Gedanken geäußert haben. Die Staatsanwaltschaft geht aber nicht davon aus, dass er mehr wusste als alle anderen, die um David S. waren. Dieser hatte zuhause im Keller das Schießen geübt, er fuhr nach Winnenden und las ein einschlägiges Buch. Doch weder Eltern noch Lehrer oder Ärzte bekamen mit, wie er in seine irrationale Welt aus Hassfantasien abrutschte.
Seine Eltern, was mag in ihnen vorgehen? Armelas Familie kann am Jahrestag mit den anderen Abschied nehmen, Unterstützung und Mitgefühl teilen. Die Eltern von David S. bekamen Drohungen. Sie leben nun im Ausland unter anderem Namen (lesen Sie mehr auf tz.de*).
dpa
*tz.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerkes.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir bitten um Verständnis, dass es im Unterschied zu vielen anderen Artikeln auf unserem Portal unter diesem Artikel keine Kommentarfunktion gibt. Bei einzelnen Themen behält sich die Redaktion vor, die Kommentarmöglichkeiten einzuschränken.
Die Redaktion