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Skandal oder Prüderie? Deutschland und die MeToo-Debatte

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In den sozialen Netzwerken wurde die MeToo-Debatte intensiv geführt. Foto: Britta Pedersen
In den sozialen Netzwerken wurde die MeToo-Debatte intensiv geführt. Foto: Britta Pedersen © Britta Pedersen

Vor sechs Monaten schrieben zwei Journalistinnen für die «New York Times» einen Artikel über Medienmogul Harvey Weinstein - der Beginn eines Skandals und einer weltweiten Debatte über Missbrauch und Sexismus. Wo steht Deutschland heute?

Berlin (dpa) - Manchmal sind es die Bilder aus dem Fernsehen, die wieder hochkommen. Katarina Barley hat eine Szene aus der US-Serie «Hart aber herzlich» mit Robert Wagner und Stefanie Powers im Kopf, die sie als Teenagerin gesehen hat.

Die Frau fragt den Mann darin, was er an ihr am meisten liebe: «Dass du noch nie Nein gesagt hast.» Noch eine Szene aus Barleys TV-Erinnerung: Uschi Glas, im schlabberigen Micky-Maus-Shirt, ist von ihrem Mann verlassen worden. Die Freundin sagt: «Guck doch mal, wie du aussiehst, dann ist das doch auch kein Wunder.» Beides ist Jahrzehnte her, es hat sich bei Barley (49) eingebrannt.

Auf der Berlinale macht die heutige SPD-Justizministerin deutlich: Die Gesellschaft sollte über Rollenbilder nachdenken. Und genau das ist in Deutschland passiert, seit vor einem halben Jahr die MeToo-Debatte über Macht, Mobbing und sexuellen Missbrauch aufkam. Anders als in den USA sind in Deutschland so gut wie keine prominenten Namen gefallen, mit Ausnahme von Dieter Wedel.

Aber große Skandale in Politik, Wirtschaft oder Sport? Gibt es sie etwa nicht? Oder wollen die Betroffenen aus Angst nicht darüber reden? Dass es in vielen Branchen gärt, weiß auch Barley: Sie erzählt von einem Brief von 20 Frauen aus der Versicherungsbranche, die Übles von Dienstreisen berichteten - von anzüglichen Bemerkungen bis zu Einladungen aufs Hotelzimmer und Drohungen, wenn sich die Frauen weigern. Das klingt dann doch noch nach 50er-Jahre-Deutschland wie in der Serie «Ku'damm 59», als Frauen noch kein eigenes Konto haben durften, ohne ihren Mann zu fragen.

In der Filmbranche hat sich einiges bewegt. Bündnisse wie Pro Quote Film bekommen viel Aufmerksamkeit, die Unterstützerinnen von Quoten werden weniger belächelt als früher. Es soll für die Filmbranche eine Anlaufstelle für Betroffene geben, die mit Geld von Kulturstaatsministerin Monika Grütters angeschoben wird. «Macht und Missbrauch waren viel zu lange stille Komplizen», sagt Grütters.

Das einzige mediale Erdbeben in Deutschland aber gab es nach den «Zeit»-Berichten mit schweren Vorwürfen gegen Dieter Wedel, die bis hin zur Vergewaltigung reichen. Er bestreitet sie im Kern. Es war der einzige prominente Fall in Deutschland mit schweren Folgen. Wedel verlor seinen Job als Leiter der Bad Hersfelder Festspiele. In der Branche war sein Verhalten als Regiemacho lange ein Tuschelthema, viele haben davon gewusst. Im Zuge von MeToo wurde er in den Medien zur Rechenschaft gezogen. Manche sagen: an den Pranger gestellt. Die Justiz ermittelt, mit noch offenem Ergebnis.

Da ist was im Gange - doch nicht alle sind begeistert. Manche sehen das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Gefahr - fürchten, dass beide Geschlechter nicht mehr locker miteinander umgehen können - ist gar eine neue Prüderie im Anmarsch? Was darf man noch sagen - und was nicht?

Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) findet, dass die MeToo-Debatte teilweise übers Ziel hinausschießt und versucht, «jegliche Äußerung von Anziehung zwischen den Geschlechtern zu tilgen». «Flapsige Bemerkungen» oder «tumbe Komplimente» hält sie zwar für unangemessen, wie sie dem Berliner «Tagesspiegel» sagte. Sie glaube aber nicht, dass es «unser Land lebenswerter machen würde», Grenzen noch weiter zu verschieben.

Anders sieht der Schauspieler Sebastian Schipper die Debatte um Sexismus. «Was für eine Art von schützenswertem Flirt soll es sein, bei dem sich die andere Person mies fühlt?», fragt er im Gespräch mit «Spiegel Online». Dass sein Geschlecht durch MeToo etwas zu verlieren hat, findet er nicht. «Ein paar dumme alte Säcke werden es nicht mehr lernen», resümiert er.

Einigen stößt auf, dass mutmaßliche Opfer sexueller Gewalt sich erst Jahre später zu Wort melden. Das Wort «Hexenjagd» fällt. Schließlich könne nach so langer Zeit meist niemand mehr beweisen, was war - und was nicht. Aussage gegen Aussage. Es gilt die Unschuldsvermutung. Eine falsche Verdächtigung kann Existenzen zerstören. Keine Frage, auch für Medien ist das Thema kein einfaches. Wann genießt das Persönlichkeitsrecht eines mutmaßlichen Täters größeren Schutz als Interesse an umfassender Berichterstattung? Immer wieder eine Gratwanderung.

Und die Frauen, die nun «Ich auch» sagen - sie müssen sich auch diese Fragen gefallen lassen: «Warum seid ihr damals nicht zur Polizei gegangen?» oder «Wieso habt ihr solange geschwiegen?»

Der Schauspieler Til Schweiger erinnert bei «Markus Lanz» an die «wahnsinnige Macht», die Wedel früher gehabt habe. Ein «Fernsehgott» sei er gewesen. «Wo soll diese Frau, die sowieso schon traumatisiert ist durch das, was man ihr angetan hat, wo soll sie den Mut hernehmen und gegen diesen Übermenschen auszusagen oder vorzugehen?», verteidigt er eine der Schauspielerinnen, die heute Vorwürfe erhebt. Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen versteht hingegen nicht, warum die Frauen den Fall nicht angezeigt haben. «Dann wäre Schluss gewesen», sagt sie.

Eine EU-weite Studie aus dem Jahr 2014 kommt zu dem Ergebnis, dass nur ein Bruchteil der Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, überhaupt zur Polizei geht oder sich bei anderen Organisation Hilfe sucht. Ein Grund dafür ist Scham. Andere Opfer glauben, schon selbst oder mit der Hilfe von Freunden oder Familie mit dem Vorfall fertig zu werden.

Wie wird man in 10 oder 20 Jahren auf diese Zeit zurückblicken? Als Deutschland darüber diskutierte, ob das denn wirklich alles sein müsse: die weibliche Anrede auf dem Sparkassen-Formular. Das dritte Geschlecht. Die Ehe für Alle. Das Gendersternchen in der Sprache («Lehrer*innen»), damit sich alle gemeint fühlt.

Ob sich noch jemand an das missglückte Kompliment erinnern wird, von dem sich eine Berliner Staatssekretärin angegriffen fühlte? Oder an das angeblich frauenfeindliche Gedicht von Eugen Gomringer an einer Hochschul-Fassade? Vieles wurde in der Diskussion um MeToo in einen Topf geworden. Was davon bleiben wird, könnte einmal Stoff für Doktorarbeiten werden.

Kolumne von Thomas Fischer bei Zeit Online

Hansjürgen Karge bei Anne Will

Weinstein-Artikel in der New York Times

EU-Studie zur Gewalt gegen Frauen

Mehrheit sieht keine Gleichberechtigung

Frauen und Männer in Deutschland sind uneins in der Frage, ob es eine Gleichberechtigung der Geschlechter gibt. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur mit 2036 Teilnehmern hervor.

Auf die Frage «Sind Frauen und Männer Ihrer Meinung nach in Deutschland gleichberechtigt?» antworteten nur 32 Prozent der Frauen mit Ja. Bei den Männern waren es dagegen 57 Prozent. 63 Prozent der Frauen antworteten dagegen mit «Nein» oder «eher Nein», bei den Männern waren es 39 Prozent.

Die Antworten auf die Gesamtbevölkerung bezogen ergeben folgendes Bild: 44 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland sehen Frauen und Männer in der Gesellschaft als eher gleichberechtigt, 51 Prozent eher nicht. Der Rest machte jeweils keine Angabe oder antwortete mit «Weiß nicht».

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