Genau das ist der Unterschied zum ambitionierten Familiendrama „Schwesterlein“ des Schweizer Regie-Duos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Nina Hoss spielt die Titelfigur einer Dramatikerin, die sich aufopfernd um ihren schwer krebskranken Bruder kümmert, gespielt von dem Star der Berliner Schaubühne, Lars Eidinger. Mit aller Kraft unterstützt sie ihn bei dem tragischen Bestreben, gegen sein Sterben anzuspielen, und überwindet dabei sogar die eigene Schreibblockade für einen großen Monolog.
Tatsächlich ist das Theater jedoch vor allem indirekt im Film präsent, in Form einer Überdramatisierung, die etwa einen eher aufgesetzten Ehekonflikt zum zweiten dramatischen Zentrum erhebt. Wie auf einer Bühne finden die Schauspieler reichlich Gelegenheit zu expressiven Höhepunkten, was man genießen kann – in der Mutterrolle glänzt Marthe Keller – oder auch bedauern: Die Inszenierung kann die unterschiedlichen Schauspiel-Temperamente nur schlecht bündeln. Einzig die auch bei größter Emotionalität stets maßvolle Nina Hoss hält den überladenen Film zusammen.
Beim amerikanischen Sundance-Filmfestival gibt es einen eigenen Preis für „Neorealismus“, und die jüngste Gewinnerin ist Eliza Hittman. Ihre dritte Regiearbeit „Never Rarely Sometimes Always“ gewann dort auch den Großen Preis der Jury, was sie mit einem gewissen Vorsprung in den Berlinale-Wettbewerb starten lässt. An Originalschauplätzen auf analogem Film gedreht, könnte ihr Independentkino auf den ersten Blick schon vor vierzig Jahren entstanden sein. Das macht ihre Geschichte einer 17-jährigen Schwangeren, die mit ihrer Cousine für eine Abtreibung aus dem ländlichen Pennsylvania nach New York City reist, nicht weniger einzigartig. Schon die Anfangssequenz, in der die Protagonistin bei einem Amateurabend einen selbstgeschriebenen Folk-Song singt, gibt eine Vorahnung von einer zweiten, unerzählten Geschichte. Offensichtlich ist die junge Frau ein Missbrauchsopfer, doch worüber sie nicht sprechen kann, das würde auch diese meisterhafte Regisseurin niemals zeigen.
Das unabhängige amerikanische Kino kann noch immer das Spannendste der Welt sein – wenn es sich wirklich frei hält von den Hollywood-Konventionen des formelhaften Erzählens. Es gibt keine psychologisierenden Dialoge und statt vorschnellen Antworten lieber die entscheidenden, aber umso bohrenderen Fragen.
Nicht einmal die scheinbar obligatorischen Nebenfiguren eines solchen Szenarios kommen vor, weder der „Erzeuger“ noch die unwissenden Eltern. Umso eindringlicher wirkt die Beziehung der Teenager, gespielt von Sidney Flanigan und Talia Ryder. Der Titel „Never Rarely Sometimes Always“ verweist auf die Antwortauswahl eines Fragebogens, der dem Mädchen von einer Betreuerin in der Klinik vorgelegt wird. Künftig könnte man mit ihm einen Klassiker nicht nur des feministischen Kinos verbinden.
Von Daniel Kothenschulte
Das Berlinale-Programm ist hochkarätig – doch die Ablehnung von Ai Weiweis großartigem Dokumentarfilm „Vivos“ ist unverständlich.