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Berlinale-Wettbewerb: Der stille Glanz des Einfachen

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Nina Hoss und Lars Eidinger in „Schwesterlein“. Foto: Vega-Film
Nina Hoss und Lars Eidinger in „Schwesterlein“. © Vega-Film

Der Koreaner Hong Sangsoo und die Amerikanerin Eliza Hittman lassen Abel Ferraras Tiefpunkt „Sibiria“ vergessen. Überladen wirkt „Schwesterlein“, trotz der maßvollen Nina Hoss.

Mit unaufdringlicher Präsenz und Schweizer Präzision führt der neue Programmchef Carlo Chatrian seine erste Berlinale so reibungslos wie eine elektrische Eisenbahn. Dabei fehlte es am Potsdamer Platz nicht an Hindernissen; mit dem CineStar-Kino schloss kurz vor dem Festival einer der wichtigsten Spielorte, und sogar die glanzlose, aber verlässliche Gastronomiezeile in der überdimensionierten Shopping Mall gegenüber ist verwaist. Geduldig betrachtet die internationale Presse das Schlangestehen vor der einzigen Kaffeeausgabe im Festivalzentrum bereits als Teil des knappen Entspannungsprogramms zwischen den bis zu sechs Filmen am Tag.

Berlinale: „Siberia“ – Eine polternde Geisterbahn

Dass die cineastische Reise nach den Höhen der ersten Wettbewerbsfilme von Kelly Reichardt und Christian Petzold auch durch Täler führen würde, schien unvermeidlich. Während Petzolds Taucher-Romanze „Undine“ noch immer die internationale Kritikerumfrage eines amerikanischen Branchenblatts anführt, glich die Vorführung von Abel Ferraras neuem Werk „Siberia“ einem Untergang. Willem Dafoe, schon im vorletzten Film des Amerikaners, „Tommasso und der Tanz der Geister“, als Alter Ego des Regisseurs besetzt, stellt sich als sibirischer Barbesitzer jetzt erst dem wahren Geistertanz. 

Doch es ist eine polternde Geisterbahn, die an ebenso vielen Schauplätzen Station macht, wie sich internationale Filmförderungen an dieser italienisch-deutsch-mexikanischen Koproduktion beteiligten: Eis- und Sandwüsten, Höhlen- und Betonhöllen. Es gibt tanzende Zwerge und eine schwüle, selbstzweckhafte Aktszene des alternden Protagonisten mit einer jungen Schwangeren. Zu einem surrealen Bildfluss aber will das Panoptikum nicht verschmelzen, keine Vision wirkt originell, da hilft auch kein Gothic Rock auf der Tonspur. Offensichtlich fehlt es in diesem Jahr an bekannten Namen hinter der Kamera, doch deshalb einen unzweifelhaft missratenen Film ins Programm zu heben, erweist der Sache des Autorenfilms keinen guten Dienst.

Berlinale: Der Minimalismus hat viele Gesichter 

Eine verlässliche Größe ist dagegen der koreanische Vielfilmer Hong Sangsoo. „The Woman Who Ran“ ist bereits sein 23. Film, bis zu drei schafft er im Jahr, was den leichten Lauf seiner Inszenierungen förmlich noch zu ölen scheint. Wieder spielt Kim Minhee, bereits 2017 Bärengewinnerin in Hongs „On the Beach At Night Alone“, die Hauptrolle.

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Nach fünf Ehejahren ist ihre Filmfigur zum ersten Mal für ein paar Tage von ihrem Mann getrennt. So trifft sie drei Freundinnen, die sie über die Jahre vernachlässigt hat. Jede führt ihr Leben in bewundernswerter Unabhängigkeit und scheint doch die Heldin um ihr offenkundiges Liebesglück zu beneiden. Erst die letzte Begegnung, bei der sie auf eine frühere Liebe trifft, öffnet eine sorgsam kaschierte Wunde.

Der Minimalismus im Kino hat viele Gesichter, aber keinem Filmemacher abseits des Dokumentarischen gelingt derzeit eine solche Zauberei. Hong Sangsoo ist ein Jongleur des Wirklichen, dem nichts Menschliches fremd ist – abgesehen von der Angestrengtheit, die er aus seinen Filmen kategorisch verdammt.

Berlinale: Theater ist indirekt im Film präsent 

Genau das ist der Unterschied zum ambitionierten Familiendrama „Schwesterlein“ des Schweizer Regie-Duos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Nina Hoss spielt die Titelfigur einer Dramatikerin, die sich aufopfernd um ihren schwer krebskranken Bruder kümmert, gespielt von dem Star der Berliner Schaubühne, Lars Eidinger. Mit aller Kraft unterstützt sie ihn bei dem tragischen Bestreben, gegen sein Sterben anzuspielen, und überwindet dabei sogar die eigene Schreibblockade für einen großen Monolog.

Tatsächlich ist das Theater jedoch vor allem indirekt im Film präsent, in Form einer Überdramatisierung, die etwa einen eher aufgesetzten Ehekonflikt zum zweiten dramatischen Zentrum erhebt. Wie auf einer Bühne finden die Schauspieler reichlich Gelegenheit zu expressiven Höhepunkten, was man genießen kann – in der Mutterrolle glänzt Marthe Keller – oder auch bedauern: Die Inszenierung kann die unterschiedlichen Schauspiel-Temperamente nur schlecht bündeln. Einzig die auch bei größter Emotionalität stets maßvolle Nina Hoss hält den überladenen Film zusammen.

„Never Rarely Sometimes Always“

Beim amerikanischen Sundance-Filmfestival gibt es einen eigenen Preis für „Neorealismus“, und die jüngste Gewinnerin ist Eliza Hittman. Ihre dritte Regiearbeit „Never Rarely Sometimes Always“ gewann dort auch den Großen Preis der Jury, was sie mit einem gewissen Vorsprung in den Berlinale-Wettbewerb starten lässt. An Originalschauplätzen auf analogem Film gedreht, könnte ihr Independentkino auf den ersten Blick schon vor vierzig Jahren entstanden sein. Das macht ihre Geschichte einer 17-jährigen Schwangeren, die mit ihrer Cousine für eine Abtreibung aus dem ländlichen Pennsylvania nach New York City reist, nicht weniger einzigartig. Schon die Anfangssequenz, in der die Protagonistin bei einem Amateurabend einen selbstgeschriebenen Folk-Song singt, gibt eine Vorahnung von einer zweiten, unerzählten Geschichte. Offensichtlich ist die junge Frau ein Missbrauchsopfer, doch worüber sie nicht sprechen kann, das würde auch diese meisterhafte Regisseurin niemals zeigen.

Bohrende Fragen 

Das unabhängige amerikanische Kino kann noch immer das Spannendste der Welt sein – wenn es sich wirklich frei hält von den Hollywood-Konventionen des formelhaften Erzählens. Es gibt keine psychologisierenden Dialoge und statt vorschnellen Antworten lieber die entscheidenden, aber umso bohrenderen Fragen.

Nicht einmal die scheinbar obligatorischen Nebenfiguren eines solchen Szenarios kommen vor, weder der „Erzeuger“ noch die unwissenden Eltern. Umso eindringlicher wirkt die Beziehung der Teenager, gespielt von Sidney Flanigan und Talia Ryder. Der Titel „Never Rarely Sometimes Always“ verweist auf die Antwortauswahl eines Fragebogens, der dem Mädchen von einer Betreuerin in der Klinik vorgelegt wird. Künftig könnte man mit ihm einen Klassiker nicht nur des feministischen Kinos verbinden.

Von Daniel Kothenschulte 

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