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Wie im Augenblick erfunden

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Hochbegabungen aus dem Ostsee-Raum: Kristjan Järvi (vorne) und seine Musiker vom „Baltic Youth Philharmonic“.
Hochbegabungen aus dem Ostsee-Raum: Kristjan Järvi (vorne) und seine Musiker vom „Baltic Youth Philharmonic“. © -

Von Ute Schalz-LaurenzeBREMEN (Eig. Ber.) n Die meisten Konzerte waren ausverkauft, das Wetter stimmte und zwischen die Konzertbesucher mischten sich viele, die einfach die Atmosphäre innerhalb der wunderschön ausgeleuchteten Innenstadtgebäude genossen.

Allein der Eröffnungsabend des 20. Musikfestes ist ein nachhaltiges Event. Die Idee, sich in drei Veranstaltungen sein eignes Konzertmenü zusammenzustellen, funktioniert auch auf der Ebene einer großen Vielseitigkeit des stilistischen Angebots.

Ich wählte für das erste Konzert die älteste Musik: das fünfköpfige Ensemble „Cinquecento“ in der Kirche Unser Lieben Frauen mit flandrischer und englischer Musik aus dem 16. Jahrhundert. Ganz befriedigend war das nicht, denn die Häppchenkultur wurde hier in die Konzertkonzeption hineingetragen, mit Sätzen aus Messen und aus anderen liturgischen Zusammenhängen. Als Verbindungsglieder hatten die Musiker die einstimmige gregorianische Musik gewählt. Die Gruppe aus zwei Countertenören, Tenor, Bariton und Bass beeindruckten durch eine überragende Klangschönheit und Homogenität, eine berückende Pianokultur, ließen aber emotionale Besonderheiten weitgehend vermissen.

Die bekam man dann im Übermaß bei dem 1970 geborenen Fazil Say, einem Ausnahmepianisten im wahrsten Sinne des Wortes. Der Türke ist auch als Komponist und Improvisator tätig, was sich häufig in den Interpretationen längst bekannter älterer Musik unglaublich positiv niederschlägt. So wie er Ludwig van Beethovens drittes Klavierkonzert „hinperlte“: Das war alles wie im Augenblick erfunden, immer wieder auch unterstützt durch eine ganz persönliche Gestik, wenn seine Hände in Pausen auf dem Klavier liegen, Say seinen Kopf in den Händen vergräbt oder auch mit einer freien Hand nach der nächsten Melodie zu suchen scheint. Wie ein spotaner Zauberer machte er uns mit Klangfarben und in den Kadenzen mit Gesten bekannt, die wie nie gehört wirkten.

Kristjan Järvi begleitete mit dem Orchester „Baltic Youth Philharmonic“, einem in jeder Hinsicht ganz jungen Orchester: 2008 von Kristjan Järvi gegründet, versammelt es junge Hochbegabungen aus dem Ostsee-Raum, aus Russland, Litauen, Lettland, Polen, Norwegen, Schweden und Finnland. Das war gut, und die jungen Leute ließen sich deutlich von der unglaublichen Musikalität Says anstecken. Seine zweite Zugabe war Mozarts türkischer Marsch, den er mit einem solchen Witz durch seine Improvisationmühle jagte, dass sowohl im Orchester beglückte Gesichter zu sehen waren, als auch das Publikum um stehende Ovationen nicht herumzukommen schien.

„Die Aufgabe, sieben Adagios, von denen jedes gegen zehn Minuten dauern sollte, aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhörer zu ermüden, ist keine von den leichtesten“, meinte Joseph Haydn zum Kompositionsauftrag eines Domherren aus Cadiz zum Karfreitag 1785. Titel und Text sind „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“, dessen Urfassung für großes Orchester mit Pauken und Trompeten ist, der Haydn 1787 ein Streichquartettfassung und 1795 eine Oratorienfassung folgen ließ. Im St.Petri Dom erklang nun die Orchesterfassung durch „Le Concert Spirituel“ unter der Leitung von Hervé Niquet. Und was Haydn als die kompositorische Schwierigkeit erkannte, gilt natürlich noch mehr für die Interpretation: acht Largosätze durchzuspannen. Niquet gestaltet mit Umsicht und Intensität die ungemein aussdrucksstarken und immer wieder überraschenden Affektbilder zwischen Schmerz und Trost. Wenn man gut dreißig Minuten in sensibler Trauer und Stille ausgehalten hat, folgt Haydns „Knall“: „Il Terremoto“ – das Erdbeben, das als klangmalerische Vorstellung tatsächlich nach dem Tod Jesu die Erde beben lässt.

Man kann (erfahrungsgemäß) davon ausgehen, dass in allen anderen Konzerten vergleichbare Qualität zu hören war.

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