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Die Zugänglichkeit des Ausschweifenden

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Freut sich immer noch: Frank Witzel
Freut sich immer noch: Frank Witzel © dpa

Bremen - Von Jens Laloire. Autorenlesungen stellt man sich eher dröge vor. Da sitzt ein Schriftsteller, liest aus seinem Werk, greift zwischendurch zum Wasserglas, nimmt einen Schluck und liest weiter, während die Bildungsbürger andächtig lauschen.

Dass eine Lesung keineswegs so dröge sein muss, hat der aktuelle Preisträger des Deutschen Buchpreises Frank Witzel am Donnerstagabend bei seiner Lesung im Wall-Saal der Bremer Stadtbibliothek charmant bewiesen.

Im Rahmen der 40. Literarischen Woche liest Witzel hier aus dem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Darin entfaltet er den irrwitzigen Kosmos eines 13-Jährigen, der in der hessischen Provinz der 60er Jahre aufwächst und sich vor dem Muff und der Enge seiner Umgebung in Fantasie-Abenteuer flüchtet, die allerlei Bezüge zum RAF-Terrorismus aufweisen.

Bereits nach wenigen Sätzen seines furiosen Romanauftakts hat der 60-jährige Autor das Publikum auf seiner Seite – durch die umwerfende Komik, die entsteht, wenn drei Teenager in einem geklauten NSU Prinz angeblich mitten in einer Verfolgungsjagd mit der Polizei stecken und als einzige Waffe eine Wasserpistole dabei haben, die nicht einmal „geladen“ ist.

Wie die meisten der 170 Zuhörer im ausverkauften Saal kann auch ich mich diesem Humor nicht entziehen und muss immer wieder lachen, obwohl ich gar nicht im Publikum sitze, sondern auf der Bühne, direkt neben Witzel. Das war gar nicht so geplant. Erst am Morgen hatte man mich gefragt, ob ich für den kurzfristig erkrankten Moderator einspringen könne.

Meine erste Reaktion: Auf keinen Fall! Zum einen hatte ich diesen 800-Seiten-Wälzer noch gar nicht zu Ende gelesen, zum anderen handelt es sich bei Witzels Werk – trotz der äußerst amüsanten Passagen über einen Teenager – um ein hochkomplexes Romankonstrukt, das nur schwer zu überblicken ist. Aus irgendeinem Grund sage ich nach einstündiger Bedenkzeit aber doch zu und verfluche mich dafür, als ich eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn auf dem Rad Richtung Bibliothek über vereiste Radwege schlittere. Ich fühle mich definitiv nicht gut genug vorbereitet für eine Veranstaltung mit einem der gerade gefragtesten Autoren Deutschlands.

Ein Großteil der Anspannung fällt gleich bei der Begrüßung ab. Witzel entpuppt sich als äußerst offener und zugänglicher Mensch, mit dem man leicht ins Gespräch kommt. Das zeigt sich auch auf der Bühne, als er nach seiner Lesung im Gespräch bereitwillig Auskunft gibt über die Arbeit am Roman, seine Erinnerungen an die 60er Jahre und seine Vorliebe fürs Ausschweifen.

Die Lust am Vorlesen und Erzählen scheint dem gebürtigen Wiesbadener im Laufe seiner dreimonatigen Dauerlesereise nicht abhandengekommen zu sein. Trotz des Rummels, den ihm der Buchpreis beschert hat, freut er sich über die Aufmerksamkeit für seinen Roman, an dem er über 15 Jahre gearbeitet hat. Und dass er nicht nur ausufernde Wälzer zu verfassen versteht, sondern auch ein ausgezeichnetes Gedächtnis besitzt, beweist Witzel bei der Abschlussfrage. Da die Musik der Beatles eine große Rolle in dem Roman spielt und es eine mehrere Seiten lange Passage gibt, in dem jeder einzelne Song des Albums „Rubber Soul“ interpretiert wird, habe ich die Platte mitgebracht, um ihn zu fragen, ob er alle Songs auswendig aufsagen könne. Und was macht der Buchpreisträger? Bis auf einen kleinen Dreher auf der B-Seite zählt er sie alle in korrekter Reihenfolge auf, was ihm einen begeisterten Schlussapplaus einbringt.

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