Ergreifend persönlich
Bremen - Von Ute Schalz-Laurenze. Es gibt unzählige von ihnen: Pädagogisch motivierte, aber dann doch eher künstlerische Initiativen, die nicht nur von Schulen ausgehen und sich um Inklusion bemühen. Dabei ist nicht die Frage, ob sie ästhetisch „gut“ oder eben „nicht so gut“ sind, wichtig ist für die gesellschaftliche Entwicklung, dass diese Projekte überhaupt stattfinden. Dennoch ist es natürlich ein weiterer Pluspunkt, wenn mit einer Produktion auch ein künstlerisches Niveau erreicht wird, das sich sehen und hören lassen kann – und am Premierenabend im Theater Bremen mit unglaublichem Jubel angenommen wird.
Der Abend mit dem Titel „Turnen“ versucht das schier Unmögliche: 15 junge Männer von elf bis 22 Jahren „tanzen“ Turnunterricht – und tanzen muss durchaus in Anführungszeichen geschrieben werden, denn sie sind natürlich keine Tänzer.
Der Tänzer und Choreograf Tomas Bünger, noch gut in Erinnerung aus der jahrelangen Zugehörigkeit zum Tanztheater Susanne Linke/Urs Dietrich, hat sich dieser kleinen Truppe angenommen und Erstaunliches geschaffen. Einwanderung war zunächst einmal nicht sein Thema, wurde es aber durch die vielen Nationalitäten der teilnehmenden Jugendlichen. Büngers Schwerpunkt ist dagegen die Frage „Wie orientiert sich ein junger Mann?“: Teamplayer oder Einzelkämpfer, Ringer oder Balletttänzer, Junge oder Mann, Konkurrent oder Freund? Wobei diese grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Orientierung auf Frauen natürlich genauso zutreffen.
Die fünfzehn Männer auf der Bühne zeigen zunächst die choreografische Grundkonzeption eines Gruppentrainings oder Turnunterrichts, wie zum Beispiel eine Laufeinheit, aus der sich dann Individuelles entwickelt. Diese Szenen sind nicht choreografiert, sondern Jedem selbst überlassen. Der Zauber und die unbeschreibliche Poesie, die sich daraus entwickeln, beruhen gerade auf dem vollkommen unterschiedlichen Können der Tänzer: Es gibt Anfänger, die noch kaum ihren Körper kennen und trotzdem irgendwas machen, und Fortgeschrittene, die straßentheatertauglich lustige Elemente präsentieren. Dabei stellt der Zuschauer ziemlich schnell fest, dass es für den Transport von Emotion keineswegs riesiges Können braucht. Stattdessen ist ein sensibler Koordinator gefragt, der mit der Situation umzugehen versteht.
Und da hat Bünger es fabelhaft verstanden, die zum Teil unbeholfenen, aber immer leidenschaftlichen Sprünge, Purzelbäume, Radschläge oder was auch immer, neben den Gruppenaktivitäten so zu zeigen und zu platzieren, dass sie eine geradezu ergreifende persönliche Note erhalten: Wut, Angst, Vertrauen und Misstrauen, Zärtlichkeit, Mut, Selbstironie und vieles mehr.
So schlägt sich der eine wie ein Orang-Utan-Boss als Dominanzgeste auf den Oberkörper, der andere befiehlt: „Leck meine Stiefel!“ Der Dritte, gerade zusammengeschlagen, steht triumphierend wieder auf und der Vierte übt sich derweil in einer hilflosen Michael Jackson-Imitation. Neben diesen Einzelnummern gibt es dem klassischen Ballett entlehnte „Pas de deux“, mit denen ebenso getreten wie geliebt wird. Zu allem hat Max Nübling eine funktionale gute elektronische Musik zwischen Wellnessatmosphären und Schlagzeugdominanzen geschrieben.
Alles in allem: Ein ver- und bezaubernder, gesellschaftlich relevanter Theaterabend, der nicht belehren will – und es deswegen vielleicht umso mehr tut.
Weitere Aufführungen: 20., 24., und 29 Mai sowie 18. und 19 Juni.