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Festgefahren im Genre

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Ein surrealer Nichtort: Christoph Jöde in „Stalker – Picknick am Wegesrand“. Fotos: Marcel Urlaub
Ein surrealer Nichtort: Christoph Jöde in „Stalker – Picknick am Wegesrand“. Fotos: Marcel Urlaub © Marcel Urlaub

Hamburg - Von Jan-Paul Koopmann. Am einfachsten ist noch das mit dem rückwärtige Ausnüchtern: also erst schwitzend und verkatert in der Ecke liegen, dann zu viel trinken und gegen Ende einen guten Grund dafür haben. Mit der Chronologie ist es so eine Sache in David Czesienskis Theateradaption von „Stalker – Picknick am Wegesrand“. Vor allem, weil im Stück gar nicht durchgehend rückwärts erzählt, sondern mit den Plotfragmenten wild jongliert wird. Die Figuren hängen in einer Zeitschleife, in deren andauernde Wiederholungen sich immer neue Abweichungen und Fehler einschleichen – und wo sich vielleicht irgendwo auch ein Weg hinaus auftut.

Auf der Bühne ist das nicht nur lustig, sondern auch ausgesprochen traditionsbewusst. Immerhin ist die unzuverlässige Zeit ein klassisches Motiv der Science-Fiction, zu der auch „Stalker“ zählt. Dass die Inszenierung im Hamburger Schauspielhaus nun aber gerade darauf so abhebt, ist trotzdem überraschend. Der Text der Brüder Strugatzki und erst recht die ungleich bekanntere Verfilmung von Andrei Tarkowski haben ja doch sehr viel mehr zu erzählen.

Allein der Schauplatz: „Die Zone“ ist ein unwirtliches Stück Land, auf dem vor einiger Zeit möglicherweise Außerirdische Station gemacht haben. So genau weiß das niemand, weil sich die mutmaßlichen Aliens für die Menschheit nicht interessieren, sondern nur rasch Ökologie, Zeit und Raum durcheinander wirbeln, ein bisschen hochgefährliche Alientechnologie verstreuen – und gleich wieder verschwinden. Im Stück wird dieser Besuch verglichen mit einer Raststätte an der Straße, wo Waldtiere und Insekten eine völlig unverständliche Horrorwelt aus Essensresten, Abgas, Müll und ausgelaufenem Benzin vorfinden.

Die Zone ist der eigentliche Dreh- und Angepunkt der Geschichte, in seiner monströsen Unnahbarkeit viel gewaltiger als die sogenannten Stalker, die darin unter Lebensgefahr und Strafandrohung nach Schätzen suchen. Und während im Schauspielhaus nun ein paar solcher Abenteurer unterhaltsam in die Zeitfallen tappen, drängen sich natürlich Fragen auf. Was stimmt nicht mit der Welt? Haben wir Technologie und Fortschritt noch im Griff? Wer sorgt hier für Ordnung? Auf wessen Kosten? Und was ist eigentlich mit Gott? Themen, die in der Fassung von Czesienski und seinem Dramaturgen Bastian Lomsché eher beiläufig als pointiert ins Slapstick-Dauerfeuer hineinzitiert werden.

Trübe Triebgewässer: Michael Weber schenkt sich nach.
Trübe Triebgewässer: Michael Weber schenkt sich nach. © Marcel Urlaub

Ein Feuerwerk ist es aber auch geworden: Dem Spiel mit der Zeit lässt sich trotz aller Verstrickungen (zumindest vom Zuschauerplatz) durchgehend folgen und was die Zone mit den Figuren anstellt, ist auch mindestens witzig: Wer hierhin tritt, fängt an zu heulen, dort drüben wird zwanghaft gelacht, direkt daneben tief gebrüllt oder schrill gekreischt. Tragik und existenzielle Nöte der Vorlagen weichen hier dem Spaß an und mit ausgesetzter Logik.

Lisette Schürers Bühne ist ein surrealer Nichtort auf schiefen Böden zwischen ausrangierten Aktenschränken, Büromöbeln und sonderbaren Skulpturen. Das ist das Basislager, von wo die Stalker in die Zone gehen – hier lediglich durch einen gekonnten Licht- und Farbwechsel (Andreas Juchheim) angezeigt, wenn die Zone sich wie ein Filter über die Welt legt.

Die soghafte Hermetik des weltfernen Settings macht es nur leider immun gegenüber seiner überdeutlich anmoderierten Botschaft. Besonders zeitlos wird es ausgerechnet da, wo es erklärtermaßen zur Sache gehen sollte: Am Ende finden die Zonenbesucher einen geheimnisvollen Alienzylinder, der Wünsche erfüllen soll – und haben dann plötzlich keine mehr. In Variationen wird die uralte Frage ausgebreitet, ob man sich eine bessere Welt für alle wirklich wünschen kann, oder ob ein echter Wunsch nicht doch von weiter unten, aus trüben Triebgewässern hochblubbern muss. Die Welt ist jedenfalls schlecht, weiß das Theater hier, und macht kurz vor Schluss noch eben eine halbe Schuldfrage auf. Und das war’s dann auch, weil sich die Charaktere nicht weiter entwickelt. Sie können es auch gar nicht, weil ja alles als Macke oder Tick in permanenter Wiedererkennbarkeit zirkulieren muss, damit diese Gags so knackig zünden, wie sie es eben tun.

Was bleibt, ist eine stark eingekochte Genreminiatur, die aber trotz allem großen Spaß macht – und die obendrein den Auftakt stellt für einen veritablen Science-Fiction-Herbst im norddeutschen Theater: Kommenden Freitag feiert im Schauspiel Hannover Philip K. Dicks „Zeit aus den Fugen“ Premiere, am 26. September folgt in Bremen „The End. Eine Replikantenoper“, die sich auf Dicks „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ bezieht.

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