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Unfallfrei an der Kletterstange

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Ohne Selbstzweck: Die Live-Videos sorgen für räumliche Erweiterungen.
Ohne Selbstzweck: Die Live-Videos sorgen für räumliche Erweiterungen. © Karl-Bernd Karwasz

Hannover - Von Jörg Worat. Späte Gerechtigkeit: Zu Shakespeares Zeiten war es üblich, die Frauenrollen mit Männern zu besetzen – nun hat Regisseur Florian Fiedler den Spieß umgedreht. Nämlich ein munteres Damensextett auf des Dichters Stück „Maß für Maß“ losgelassen und somit fraglos ein paar Akzentverschiebungen beschworen, zum Beispiel in Fragen, wer was mit wem hat, gerne hätte oder auf keinen Fall haben will. Nicht nur dadurch bekam die Premiere am Schauspiel Hannover einigen Unterhaltungswert. - Von Jörg Worat.

Und der kann bei Shakespeare auch dann nicht schaden, wenn es um ernste Themen geht. In diesem Fall um Macht und Strategien zu ihrer Erhaltung: Herzog Vincentio hat die Regierungsgeschäfte in Wien derart schleifen lassen, dass die Stadt verludert ist. Also macht er sich aus dem Staub und überträgt sein Amt dem als Tugendbold geltenden Angelo. Dessen Grundsätze prompt ins Wanken geraten, nachdem er den Edelmann Claudio wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs mit nachfolgender Schwangerschaft zum Tode verurteilt hat und die liebreizende Schwester des Delinquenten, die Novizin Isabella, zwecks Gnadengesuchs bei ihm vorstellig wird – Angelo macht ein höchst unmoralisches Angebot. Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass Vincentio in Wirklichkeit vor Ort geblieben ist und das Geschehen in Mönchsverkleidung verfolgt.

Fiedler hat für diese Verwirrungen eine schöne Balance gefunden, die dem Spiel viel Raum gibt und den überzogenen Klamauk vermeidet. Das Bühnenbild von Maria-Alice Bahra ist ein zweistöckiges Halbrund mit allerlei Türen, die punktuell ein bisschen Slapstick hergeben, und wer immer schon mal wissen wollte, wie man zusammen mit einer größeren Topfpflanze unfallfrei eine Kletterstange herunterrutscht, wird in dieser Inszenierung endlich aufgeklärt. Räumliche Erweiterungen gibt es durch Live-Videos hinter der Bühne, überwiegend geschmackvoll eingebracht und nicht, wie so oft, Selbstzweck. Die Kostüme (Selina Peyer) zitieren sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart.

Da von einer Requisitenschlacht keine Rede sein kann, müssen die sechs Darstellerinnen schon von sich aus was bieten. Das tun sie dann auch durch die Bank. Lisa Natalie Arnold steht vordergründig im Mittelpunkt, weil sie als Vincentio/Mönch eine leicht überkandidelte Eifrigkeit an den Tag legt, die gut zu dieser prinzipiell durchaus fragwürdigen Figur passt. Julia Schmalbrock erweist sich in der Doppelrolle von Claudio und Angelos Verlobter Mariana als sehr wandlungsfähig. Charlotte Müller erfüllt ihre Vorgabe „Lucio, ein Dandy“ punktgenau und hat einen feinen Humor. Sophie Krauß gibt der Isabella das rechte Maß an Energie mit, um dem Klischee der supernaiven Mädels auszuweichen. Elena Schmidt als Angelo hat, und auch das ist der Figur angemessen, noch am ehesten so etwas wie eine androgyne Ausstrahlung. Und Veronika Reichard darf sich in diversen Nebenrollen austoben, wobei ihre Darstellung des tumben Aufsehers hervorsticht, der mit seiner Axt einem Horror-Movie der Kategorie „C“ entsprungen zu sein scheint.

„Ein krass patriarchalisches Stück“, so lässt Regisseur Fiedler im Programmheft wissen, sei „Maß für Maß“, was durch die rein weibliche Besetzung scheinbar aufgehoben und zugleich betont würde. Zwingend vermittelt sich das so zwar nicht, die zwei pausenlosen Stunden bleiben aber interessant, kurzweilig und frei von echten Spannungslöchern. Und wirklich grandios ist der Schluss, der überaus deutlich macht, dass Shakespeares Happy Ends höchst grotesk sein können. Um die Worte „ziemlich bescheuert“ zu vermeiden.

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