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Gegen die Familienwahrheit angestottert

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Gunther Geltinger
Gunther Geltinger © -

Bremen - Von Tim Schomacker(Eig. Ber.) · In „One Week“ versucht Buster Keaton, in diesem Fall frisch vermählt, ein Fertighaus aufzubauen für’s junge Glück. Klappen tut das nicht. Mal ist die Haustür im ersten Stock, mal der Schornstein schief, dann wieder fällt man von der Küche treppentief in die Badewanne.

Mit einem ähnlichen Haus bekommen wir es in „Mensch ENGEL“, dem ersten Roman des 1974 am fränkischen Mainufer geborenen Gunther Geltinger zu tun. Was in diesem Falle daran liegt, dass Erinnerungsstrukturen und Bauanleitungen selten identisch sind. Im Rahmen der Literarischen Woche wird Geltinger gemeinsam mit dem Literaturpreisträger von 1997, Michael Roes, sein Buch vorstellen. Und davon berichten, wie und warum Engel daran scheitert, eine konsistente Selberlebensbeschreibung zusammenzubringen. Immer wieder passen Erinnerungsstücke nicht zusammen. Immer wieder lesen wir, wie Engel abbricht, korrigiert, überschreibt. „Er versucht, seiner Biografie habhaft zu werden, indem er sie aufschreibt“, sagt Geltinger, „und der im Schreibprozess merkt, dass Biografie gar nicht existiert, weil sie ja immer Fiktion ist.“ An diese erzählerische Grenze drängt Geltinger seine Figur, die in der Erzählgegenwart in Köln lebt, zusammen mit Boris. Und fast ein bisschen heimisch angesichts der früheren Haltlosigkeit zur Zeit der ersten sexuellen Beziehungen im fast expressionistisch aufgeladenen Mainauenschilf, des körperlichen und identitären Suchens, der Lust an der Lust und auch am Verlorengehen in intensiv-zwielichten Lebensformen im morbiden Wiener Strichermilieu. „Ich habe eine Gegenstimme gebraucht, den zehn Jahr älteren Engel. Und die Stadt.“

Rückblickend verändert Engel permanent das Elternhaus. Räume tun sich auf, Türen führen ins Nichts. Wobei die Räumlichkeiten weniger interessant sind als Bruder und Schwester und die Eltern. Bemerkenswerter Weise ist „Mensch ENGEL“, das seinen Protagonisten auch um ein lebbares schwules Leben ringen lässt, kein schwuler Roman, sondern gewissermaßen der Entwicklungsroman einer ganzen Familie. Die Körper sind Austragungsorte von Lebhaftigkeit genauso wie von Schmerz und Verschwiegenheit. Eine schattenhafte Vaterfigur – Arzt, aber körperlos – wird einer mütterlichen Schmerzensfrau gegenüber gestellt. Die gegen Ende verschwindet, eine Leerstelle hinterlässt, nicht nur am Familienesstisch. Dazwischen Engel, dessen oft stockende Versuche, ein konsistentes Bild zusammenzufügen nicht zufällig an Stottern erinnern. „Es gibt eine These“, sagt Geltinger, dass Stottererkinder diejenigen sind, die die Wahrheit über die Familie wissen, sie aussprechen wollen, aber nicht dürfen.“ Er lässt Engel in der Dualitat des Wissens und nicht Schreibendürfens, nicht Schreibenkönnens tasten.

Den Körper als Ort und Medium nicht nur von Kommunikation hat auch Michael Roes in vielen Büchern erkundet. In „Leeres Viertel“ mit Blick auf Spiel und Freundschaften, in „Die Haut des Südens“ als psychosomatisches Feld, das sich in die amerikanischen Südstaaten und ihre Literaturgeschichte begibt. In „Der Coup der Berdache“ ist der Körper der Platz, auf dem Kleider-Ordnungen soziale Beziehungen strukturieren. Auch in seinem letzten Buch, „Die fünf Farben Schwarz“, wird der Körper um das Reisen und das Nachdenken über Sprache erweitert. „Ein Ausgangspunkt, der eigentlich für alle meine Arbeit gilt, ist das Sich-mit-der-Sprache-des-anderen-Beschäftigen“, sagt Roes.

Für „Die fünf Farben Schwarz“ hat er sich mit China noch einmal einer für ihn ganz neuen und beim intensiv Schreibenden und Reisenden unvermutete Fremdheitserfahrungen hervorrufende Kultur- und Weltgegend genähert. „Die arabische Welt, die mich lange beschäftigt hat, und auch Nordamerika, waren in gewisser Hinsicht zu Ende gedacht. Ich wollte noch mal mich auf einen ganz neuen Kulturkreis stürzen, von dem ich gar nichts weiß und von dem ich auch erst mal auf Abstand gehalten werde. Je mehr ich gelesen habe, desto weniger habe ich verstanden.“ Die Verstehensprobleme des passioniert Lesenden teilt er mit seiner Hauptfigur. Der Leipziger Rhetorikprofessor Viktor Holz lernt den chinesischen Gaststudenten Jian kennen. Der ist im gleichen alter wie sein Sohn, der zehn Jahre zuvor unter mysteriösen Umständen entführt wurde. Nicht nur die Ehe, sondern auch andere Teile von Holz’ Leben gingen anschließend in die Brüche; eine Lebenskrise, immer unzureichender verdeckt durch die Firnis akademischer Gewissheiten. Holz nimmt eine Gastprofessur in Nanking an. Seine Reise aber wird eher zu einem Trip schmerzlicher Selbstvergewisserung. Hier kommt wieder der Körper ins Spiel: als vielleicht noch Lieben-Könnender, als in Kampfkunst disziplinierter, als ritualhaft geopferter.

So verschieden beide Bücher sind, darüber, wie Biografien und Identitäten sich in Körpern ablagern, wie sich das selbstvergewissernde Denken und die körperliche Erfahrung in einander verschränken, dürften Michael Roes und Gunther Geltinger gut gemeinsam überlegen können.

Michael Roes (Die fünf Farben Schwarz. Berlin: Matthes & Seitz 2009, 24,80) und Gunther Geltinger (Mensch ENGEL. Frankfurt: Schöffling 2008, 19,90) lesen und erzählen am Sonntag, 24. Januar, um 12 Uhr im Wallsaal der Stadtbibliothek. Es moderiert Jan Künemund von der Edition Salzgeber.

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