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Kinder gibt’s für einen Euro

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Statt der eigenen Kinder muss eben das Kissen dran glauben: Germaine Acogny blickt in „Somewhere at the beginning“ durch das Prisma der griechischen Tragödie auf die eigene Geschichte. - Foto: Thomas Dorn
Statt der eigenen Kinder muss eben das Kissen dran glauben: Germaine Acogny blickt in „Somewhere at the beginning“ durch das Prisma der griechischen Tragödie auf die eigene Geschichte. © Thomas Dorn

Bremen - Von Mareike Bannasch. Wer bin ich? Eigentlich eine ziemlich einfache Frage. Trotzdem ist es in diesen Tagen für viele Menschen recht schwierig, darauf eine Antwort zu finden. Tage, in denen sich unsere gewohnte Welt in einer Phase der Umwälzung befindet, ganze Völker im Transit sind und sich ständig neu finden müssen. Angesichts von so viel Unsicherheit ist es nur logisch, dass wir nach Ankern suchen. Erlebnisse, Erinnerungen oder Personen, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute zu sein glauben, und uns ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Doch was ist, wenn Vergangenheit nicht gleichbedeutend mit Sicherheit ist? Wenn unsere Erinnerungen uns nicht retten können?

Germaine Acogny sucht darauf in ihrem Stück „Somewhere at the beginning“ Antworten. Nach der Weltpremiere 2015 präsentierte die Pionierin des zeitgenössischen Tanzes am Donnerstagabend im Rahmen des Festivals „TANZ Bremen“ ihr fabelhaftes Solo zum ersten Mal in Deutschland.

Tanz spielt in dieser Produktion allerdings nur am Rande eine Rolle, ihr Auftritt vor einem leicht wehenden Fadenvorhang, der die Bühne in zwei Teile spaltet, ist vielmehr dem westafrikanischen „griots“ nachempfunden, jener Art des Geschichtenerzählens, in der sich Sprache, Tanz und Gesang miteinander verbinden. Obwohl Acogny den Gesang lieber den Stimmen vom Band überlässt und sich stattdessen darauf konzentriert, ihren Wurzeln nachzuspüren und nebenbei das Dilemma Afrikas aufzuzeigen.

Im nur schwach ausgeleuchtetem vorderen Teil der Bühne liest die 73-Jährige, deren aufrechter, stolzer Gang Respekt einflößt, Episoden aus den Aufzeichnungen ihres Vaters Togoun Servais Acogny vor. Er war Verwalter der französischen Kolonialisten und versuchte alles, seinen Dienstherren möglichst ähnlich zu sein. Darum konvertierte er sogar zum Christentum – obwohl dies bedeutete, dass er dafür seine Mutter Aloopho, eine Vodoo-Priesterin, verleugnen musste. Eine Entscheidung, die nicht ohne Folgen bleibt: Durch die Kolonialisierung seiner Wurzeln beraubt, kann er weder an seine Vergangenheit anknüpfen noch die Gegenwart und schon gar nicht die Zukunft gestalten. Ein seelisches Gefängnis, in dem sich viele Flüchtlinge wiederfinden: Sie versuchen, in einer anderen Kultur Fuß zu fassen und in einer neuen Gesellschaft anzukommen, die von ihnen erwartet, dass sie alles hinter sich lassen, was sie einmal ausmachte.

All dies erzählt Germaine Acogny während sie zwischen den einzelnen Bühnenbereichen hin- und herwandert, ihre Arme in einer repetitiven Folge anwinkelt, hochreckt und sich mit der flachen Hand gegen die Brust schlägt, während sich ihre Wirbelsäule vom Kopf ausgehend in Wellen in Richtung Boden bewegt. Ein sicher auch ihrem Alter geschuldeter wohldosierter Tanzstil, der ohne ausladende Bewegungen beeindruckt. Zumal Videos, Licht und Musik eine gelungene Ummantelung der Familiengeschichte bilden, und diese auf eine zusätzliche Deutungsebene heben.

Acogny konzentriert sich zu afrikanischen Gesängen und Trommelklängen sowie „Hurt“ von Johnny Cash eben nicht nur darauf, die Erlebnisse ihrer Ahnen wiederzugeben. Nein, sie erzählt auch ihre eigene Geschichte, die von Schmerz, Verzweiflung, Ekstase und Ohnmacht geprägt ist – und verblüffende Parallelen zu großen griechischen Tragödien, wie die der Medea aufweist.

Genauso wie die mythologische Frauengestalt folgte auch die Tänzerin einem Mann in ein fremdes Land, ließ Heimat und Kultur hinter sich, nur um schließlich gegen eine Jüngere ausgetauscht zu werden. Eine Abweisung, die auch in der heutigen afrikanischen Gesellschaft gar nicht so selten ist, wie ein Video auf einem der Fadenvorhänge deutlich macht, und Medea dazu bringt, ihre Kinder und damit die Zukunft zu töten. Germaine Acogny wählt da einen anderen Weg, bietet den Nachwuchs stattdessen dem Publikum zum Kauf an. Für nur einen Euro sind sie zu haben, die Kinder. Ein Angebot, das die Zuschauer im Theater Bremen verwirrt zurücklässt, während im Hintergrund Bilder von afrikanischen Waisenkindern zu sehen sind. Denn „Somewhere at the beginning“ ist eben nicht nur getanzte Familienforschung, sondern auch eine Abrechnung mit der Kolonialgeschichte und ihren Folgen, gepaart mit der Erkenntnis, dass die Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ nicht das Ende des Weges ist, höchstens eine Zwischenetappe einer meistens doch recht steinigen Strecke.

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