1. Startseite
  2. Kultur

Die hartnäckige Mär von der Vergessenheit

KommentareDrucken

Kreiszeitung Syke
Kreiszeitung Syke © -

Von Johannes BruggaierSYKE (Eig. Ber.) · Fragen wie diese gehen ihm „auf die Nerven“, jene ist einfach nur „ärgerlich“ und die dritte einfach nur „langweilig“.

Seit sieben Jahren beantwortet Großkritiker Marcel Reich-Ranicki in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ die Zuschriften seiner Leser: öffentlich, unmissverständlich und beileibe nicht so nachsichtig, wie es sich der eine oder andere Briefautor erhofft haben dürfte. Wer Reich-Ranicki schreibt, muss damit rechnen, am Sonntagmorgen unter Angabe des eigenen Namens und Wohnorts eine harsche Abrechnung zu finden. Wie der Leser auf eine solch schlichte Frage überhaupt komme. Warum er sich mit ihr ausgerechnet an ihn, Reich-Ranicki, wende. Und ob sich der Verfasser denn überhaupt schon einmal nennenswert mit den großen Werken der Weltliteratur beschäftigt habe.

Das Feuilleton lebt von solchen Beiträgen, von unbefangener Kritik und öffentlichem Streit, von einer Rhetorik, die sich im Grenzgebiet von Sachlichkeit und Frechheit bewegt. Und ein Sonntag ohne Reich-Ranicki ist für FAZ-Abonnenten nicht mehr vorstellbar. Sonntagmorgen: Mal sehen, wem er heute wieder die Meinung sagt. Hoffentlich hat es wieder einmal jemand gewagt, ihm zum hundertsten Mal die dümmste aller Fragen zu stellen. Die Frage nach angeblich verkannten Künstlern und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Meisterwerken. Dann wird Reich-Ranicki zum hundertsten Mal schreiben, dass es keine verkannten Künstler gibt, dass ihre Werke meist völlig zu Recht vergessen sind, dass er es im Übrigen leid sei, das immer wieder sagen zu müssen und so weiter und so fort. Unter der Frage steht dann „Manfred Mustermann aus Buxtehude“, und der Leser freut sich, dass dieser Herr Mustermann mal so richtig einen auf den Deckel bekommen hat.

Die DVA hat nun einige Fragen samt dazugehöriger Antworten aus der Kolumne „Fragen Sie Marcel Reich-Ranicki“ in einem Sammelband vereinigt. Sorgen um seinen guten Ruf muss sich deshalb niemand machen: Die Mustermanns und ihre Wohnorte wurden für die Buchfassung freundlicher Weise eliminiert, allein die Fragen sind übrig geblieben – was freilich die Brisanz der ganzen Geschichte erheblich abmildert. Warum das umfangreiche dichterische Werk Theodor Kramers in Vergessenheit geraten sei, möchte nun Anonymus wissen. Und erwartungsgemäß klagt Reich-Ranicki darüber, dass „diese hartnäckige Mär von der Vergessenheit“ einfach nicht verstumme. Die Klage richtet sich nun freilich ins Blaue, als allgemeine und vor allem altbekannte Kulturkritik.

Warum es so wenige große deutsche Erzähler gebe, sondern allenfalls große Dichter, wagt ein anderer Leser zu fragen. Worauf sich Reich-Ranicki „verblüfft“ zeigt. Deutschland und keine großen Erzähler? Was denn der Fragesteller von Goethe halte mit seinen „Wahlverwandtschaften“ oder den „Leiden des jungen Werthers“? Und von Thomas Mann? Mit seinen „Buddenbrooks“? Es scheint, als werde die Naivität mancher Fragen zwischen zwei Buchdeckeln greifbarer als auf Zeitungspapier.

Vielfach fällt der Erkenntnisgewinn nur allzu spärlich aus. Dass Erich Kästners „Emil und die Detektive“ ein gutes Kinderbuch ist: Wer wüsste das nicht? Dass es seit Erscheinen von Thomas Manns „Felix Krull“ keinen deutschen Schelmenroman gibt, der es mit ihm aufnehmen könnte: Wer wollte das bestreiten? Dass seither überhaupt kein Roman von vergleichbarer Qualität erschienen sei, ist immerhin eine streitbare These, allein: Mehr als die Behauptung liefert Reich-Ranicki nicht.

Die Sonntage werden uns auch weiterhin mit knackigen Stellungnahmen zur Weltliteratur versüßt. In geballter Ladung muss man die Beiträge deshalb noch lange nicht rezipieren.

Marcel Reich-Ranicki: „Für alle Fragen offen – Antworten zur Weltliteratur“, Deutsche Verlagsanstalt: München 2009; 222 Seiten; 14,95 Euro.

Auch interessant

Kommentare