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Bei Herzklopfen Rinderwahn

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Wolf Haas vor der Übergabe des Bremer Literaturpreises, gestern in der Oberen Rathaushalle: Der österreichische Autor erhält die mit 20 000 Euro dotierte Auszeichnung für seinen Roman „Verteidigung der Missionarsstellung“. ·
Wolf Haas vor der Übergabe des Bremer Literaturpreises, gestern in der Oberen Rathaushalle: Der österreichische Autor erhält die mit 20 000 Euro dotierte Auszeichnung für seinen Roman „Verteidigung der Missionarsstellung“. · © Foto: dpa

Bremen - Von Rainer BeßlingSich zu verlieben, geht in der Regel mit außergewöhnlichen körperlichen Symptomen einher. Die Temperatur steigt, das Herz rast, bisweilen wird auch der Blick getrübt, und wenn es ganz schlimm kommt, weicht der Verstand auf.

Wenn sich Benjamin Lee Baumgartner in ein Mädchen verguckt, passiert allerdings noch viel mehr. Immer dann bricht um ihn herum eine Tierseuche aus. Das erste Mal, als er in London einer reizenden Burger-Verkäuferin verfällt, während der Rinderwahnsinn grassiert. Das zweite Mal hält die Vogelgrippe die Welt in Atem, als er sich in China in eine holländische Übersetzerin verguckt und mit ihr Geflügel verspeist. Drittens schlägt die Schweinegrippe zu. Dabei ist er eigentlich Vegetarier. „Wenn“, „während“, „als“ – handelt es sich bloß um zufällige, zeitliche Parallelen? Macht das Verliebtsein anfällig für die Seuche oder umgekehrt?

Der Übersetzer Baumgartner ist der Freund des Schriftstellers Wolf Haas. Zumindest in dessen neuem Roman „Die Verteidigung der Missionarsstellung“. Haas tritt selbst auf, und dass er sich für die bemerkenswerte Verbindung von Verliebtsein und Tierseuche interessiert, hat auch einen sprachtheoretischen Beigeschmack. Der Autor arbeitet über „den historischen Wandel temporaler zu kausalen Konjunktionen“, anders ausgedrückt „ist es so, dass alles, was wir als einen kausalen Zusammenhang verstehen, vorerst einmal nur ein zeitlicher Zusammenhang ist“.

Diese Fragestellung ist allerdings nur eine von zahllosen Sprachbetrachtungen, die Haas in seinen Roman einstreut, für den er gestern mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet worden ist. Sein Held, den Haas erzählerisch nach London und ins bayrische Simbach, nach Peking, Santa Fe und New Mexico begleitet, ist nicht nur für Mädchen und Seuchen anfällig, sondern auch für die sprachlichen Eigenarten der Angehimmelten. Zum Beispiel für erotisierende oder amüsante Akzente, für kreative bis ärgerliche Laut- und Sinnverschiebungen zwischen den Sprachen.

Diese Sensibilität hat der gelernte Linguist Haas seinem Protagonisten schon in den Namen geschrieben. Benjamin Lee Whorf stand hier Pate, der US-amerikanische Forscher, dessen Hypothese zufolge unser Denken vom Wortschatz und von der Grammatik der Sprache abhängen, in der wir aufwachsen. Whorf untersuchte insbesondere die Sprache der Hopi, Haas gibt seinem Sprachbetrachter Baumgartner indianisches Aussehen und richtet seinen Blick auf dessen Verständigungsprobleme und Wortfunde aus, vor allem in seinen Begegnungen mit Frauen. Dabei interessiert er sich nicht nur für das gesprochene Wort, sondern oft mehr noch für das Unausgesprochene und für die Auslegung von beiden. Doch damit nicht genug der Sprachschau von oben. Unablässig streut auch der Erzähler Haas Schleifen, mögliche Varianten, Nebenwege und Rückblenden ein, lässt Kommentare und Skizzen als Kladde, Schilderungen seines Helden als vermeintliches Rohmaterial für den Roman stehen.

Als Bewusstsein bildendes (oder abbildendes?) Moment setzt Haas noch das Schriftbild ein. Seinen orientierungsschwachen Baumgartner lässt er in London Schleifen wandern, eine Unterredung im Fahrstuhl fällt über mehrere Seiten blockweise. Ist von „Querlesen“ die Rede, liegt eine Zeile diagonal auf den Seiten. Wobei nicht die Gelegenheit ausgelassen wird, darüber nachzudenken, warum wir nicht von „Geradelesen“ sprechen.

Einen Zeitsprung markiert eine Linie. Und wenn eine Romanfigur entdeckt, was der Leser schon weiß, schrumpft das Schriftbild auf eine nicht mehr zu entziffernde Miniatur.

Dass dieser Fokus auf die Form nicht aufgesetzt wirkt, liegt an der engen Verknüpfung mit dem Geschehen und an dem hinreißenden Witz der Haasschen Erzählkunst und erzählerischen Sprachanalytik. Seite um Seite wächst der Leser mehr in die Perspektiven der Protagonisten hinein und folgt zunehmend gespannter und amüsierter den merkwürdigen Verbindungen zwischen den einzelnen Ereignissen. Haas ist eben nicht nur Linguist, sondern auch ein versierter Krimi-Autor, der Figuren zeichnen und Dialoge voller Sprachwitz zünden kann, der selbst bei häufigem Einzug von Meta-Ebenen dramaturgische Stringenz hält und schießlich noch mit überraschenden Wendungen aufzuwarten weiß. Wenn der Autor am Ende den Anfang beschwört, hat der Rezensent es schon selbst entschieden: Dieses Buch verdient eine zweite Lektüre.

Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung. Hamburg. Hoffmann und Campe, 2012.

238 Seiten, 19,90 Euro

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