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Bremer Literaturpreis an Marlene Streeruwitz. ·
Bremer Literaturpreis an Marlene Streeruwitz. · © Foto: Horak

Bremen - Von Rainer BeßlingEs beginnt im Dezember. Die Kälte ist greifbar und die Dunkelheit wiegt schwer. „Noch nie waren so viele Raubvögel zu sehen gewesen.“ Schon mit dem ersten Satz ihres Romans „Die Schmerzmacherin“ entwirft Marlene Streeruwitz ein Klima unbestimmter, unausweichlicher Bedrohung.

Der Leser folgt einer Frau durch eine schneebedeckte, abgelegene Landschaft. Nach wenigen Seiten sieht er mit ihren Augen, spürt mit ihrem Körper. Wie ein Bussard auf die einsame Fahrerin aufmerksam wird, wie sie ihn fixiert und abweisende Wachsamkeit erntet. Nur kurz schaut sie in die Iris des Tieres. Dann dreht es sich zur Seite. „Die Augen abgewandt. Weggedreht. Nicht weggeflogen.“

Amy heißt die Frau, die sich auf dem Weg zu einem Ausbildungscamp befindet, wie sich später herausstellt. In knappen Sätzen, die wie Hiebe einschlagen, wächst eine äußere Landschaft und eine innere Welt. Im Laufe des Romans wird der Leser hin und her geworfen sein zwischen einer permanent schwankenden Wirklichkeit und dem Wahrnehmungs- und Empfindungskarussell einer Getriebenen und Verletzten.

Marlene Streeruwitz, feministisch und politisch engagiert, ist für ihr jüngstes Buch von der Kritik teilweise euphorisch gefeiert worden. „Die Schmerzmacherin“ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Heute nimmt die österreichische Schriftstellerin den Bremer Literaturpreis 2012 für ihren Roman entgegen. Eine hervorragende Wahl. Erneut wird eine Sprachkünstlerin ausgezeichnet, die einen eigenen Klang entwickelt hat, der lange nachschwingt. Zugleich spiegelt sich in dem Staccato der Sätze bildgewaltig und bedrängend eine Gegenwart der Zerrissenheit und kurzatmigen Existenzbewältigung, der Verlorenheit, Unsicherheit und latenten Gefährdung.

Die Mittzwanzigerin Amy, Tochter einer Drogensüchtigen, wächst bei einer Pflegefamilie auf. Sie heuert bei einer privaten Sicherheitsfirma an, die sich auf Verhöre in Kriegsgebieten spezialisiert hat. In der Vorbereitung auf den Job wird sie mit Planspielen konfrontiert, die um Gefahr und Gewalt kreisen. Doch auch die Realität des Ausbildungslagers ist von Kampf, Macht, Demütigungen und Verletzungen geprägt.

Die Simulation von Grenzsituationen im fernen Afghanistan vermischt sich mit den Kampfplätzen in der Firma, einem Krieg aller gegen alle. Schon das erste Kapitel zeichnet schonungslos und schmerzhaft die zerstörerischen Strukturen des „Sicherheitsunternehmens“ und Amys Fluchten in den Alkohol. Diese Existenz auf der Kippe und am Abgrund weckt beim Leser früh Gefühle von Beklemmung und Qual. An das untergründige Brodeln schließen sich in einem dramatischen Crescendo schreckliche Ereignisse an. Im Zentrum der Tragödie steht eine Nacht, an die Amy wegen eines Alkoholexzesses keine Erinnerung mehr hat. Ihr Freund wir schwer verletzt, ihr selbst wird nach einer Fehlgeburt Monate später bewusst, dass sie vergewaltigt worden ist. Der Täter findet sich in der Firma. Auch der lange Schatten von Tätern in ihrer Familie fällt auf Amy. Sie scheint im freien Fall zu sein und erst am Ende im Versuch von Trauerarbeit zu sich selbst zu kommen.

Die Jury des Bremer Literaturpreises lobte an Streeruwitz‘, dass sie die „Bedrohung einer überkontrollierten Welt“ und die Auslieferung an eine „anonyme Gewalt“ thematisiere. Heute um 13 Uhr nimmt die Autorin im Bremer Rathaus den mit 20 000 Euro dotierten Preis entgegen.

Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Frankfurt/M., S.Fischer, 2011. 400 Seiten, 19,95 Euro

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