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„Rainer Gratzke oder Das rote Auto“: Der letzte Krawallier

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Josef Ostendorf ist die Titelfigur in „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“, dem neuen Stück von Jens Rachut. - Foto: Sinje Hasheider
Josef Ostendorf ist die Titelfigur in „Rainer Gratzke oder Das rote Auto“, dem neuen Stück von Jens Rachut. © Sinje Hasheider

Hamburg - Von Rolf Stein. Die eigentümliche Liaison Jens Rachuts mit dem Theater begann vor nun bald zwanzig Jahren. Im Jahr 2000 stand er in einem Stück von Schorsch Kamerun (Die Goldenen Zitronen) auf der Probebühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Seither ist Rachut, von Haus aus Punk-Sänger, immer wieder ans Theater zurückgekehrt. So war er unter anderem vor ein paar Jahren am Oldenburgischen Staatstheater in Rocko Schamonis Stück „Fünf Löcher im Himmel“ zu sehen. Am Wochenende hat er nun sein neues Stück inszeniert – im Maler-Saal am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.

„Rainer Gratzke oder Das rote Auto“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der zum Sterben in ein Hospiz in einem Bunker geht, das in ihm zugleich seinen letzten Gast hat. Danach wird es abgerissen. Seine Mauern sind deshalb von nicht geringer Bedeutung. Sie sind Projektionsfläche für Videos von geheimnisvoll verschneiten Wäldern, in denen Wunderheiler hausen. Sie sind betongraues Bollwerk, bieten aber auch, versteht sich, Ein- und Ausgang. Wobei einer davon ein Weg ohne Wiederkehr ist: Öffnet sich die linke Tür in der hohen Mauer, lodern dahinter Flammen empor, quillt Rauch auf die Bühne von Raul Doré.

Das Hospiz „Moospropfen“ ist ein desolater Ort. Dass es nicht nur von der Abrissbirne bedroht ist, sondern auch von nicht näher bestimmbaren Einheiten unter Beschuss genommen wird, ließe sich als Parallele zu Leben und Sterben des Rainer Gratzke lesen, dessen Name Normalität wie Widerborstigkeit in sich trägt. Gratzke hat Krebs. Und noch eine Stunde zu leben, an der das Publikum in Echtzeit teilnimmt. Josef Ostendorf verleiht dieser Figur zwischen krawalligem Aufbegehren, sarkatischem Spott und – angesichts seiner figürlichen Massivität – erstaunlich fragilen Zügen hinreißende Kontur.

Ostendorfs kongeniale Gegenspielerin ist die Krankenschwester Winter (Gala Othero Winter). Ferner zu sehen: ein blinder Musiker (Jonas Landerschier), ein immer wieder im unpassendsten Moment mit Geheul aus dem Winkel springender „Wandstrom-Kampfgeist“ (athletisch: Emanuel Bettencourt) und Rachut selbst als Pfleger Bobby.

„Wenn Gott Mumm hat, soll er reinkommen“

Viel Text gesteht sich der Autor dabei nicht zu. Umso mehr Knurren, Grunzen und Brüllen. Bobby trägt neben üppiger Körperbehaarung, Tarnhose und Feinrippunterhemd (Kostüme: Lena Schön, Helen Stein) meist eine Keule und muss immer wieder von Schwester Winter notbetäubt werden.

In dieser kaputten Welt wartet Gratzke auf den Tod, raucht, trinkt, wenn auch heimlich – laut Schwester Winter darf er keinen Alkohol, wegen der Tabletten. „Wenn Gott Mumm hat, soll er reinkommen und gegen mich antreten. Jeder ein offenes Stromkabel in der Hand und dann mal sehen, wer zuerst auf den Boden ascht“, pöbelt er. 

Und muss dann am Ende noch selbst für seinen Abgang sorgen. Denn mag er auch noch so kaputt sein: Nach einer knappen Stunde sind alle anderen tot, nur Gratzke nicht, zwölf Minuten ist er schon über der Zeit, stellt er fest. Am Ende stürzt er sich rücklings aus dem Fenster.

Fraglos geht es hier auch um Punk - aber ohne Gewissheiten

Wer ein wenig vertraut ist mit Rachuts Schaffen, nicht zuletzt den Texten von Bands wie Dackelblut oder Oma Hans, aber auch mit den Hörspielen, die er schreibt und produziert, erkennt in diesem Abend einen Grundton wieder, eine eigene Melodie, absurd, derb, gallig, bisweilen aber auch von einer eigentümlich schillernden Poesie, die sich den letzten Entschlüsselungen stets verweigert.

Weshalb „Rainer Gratzke“ ganz sicher auch mehr Beckett als Brecht ist, über eine vermeintlich so unwidersprochene, eindeutige Sache wie das Ableben lieber Uneindeutigkeit stiftet, Gewissheiten verneint – und damit fraglos auch ein Stück Punk-Haltung darstellt.

Die nächsten Vorstellungen: Donnerstag, 20. Dezember, 20 Uhr sowie Mittwoch, 26. Dezember, Donnerstag, 27. Dezember, jeweils 20 Uhr; Dienstag, 15. Januar, Mittwoch, 16. Januar, Donnerstag, 17. Januar, jeweils 19.30 Uhr, Sonntag, 20. Januar, 23.59 Uhr, Maler-Saal, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg.

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