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In den „Kopfwelten“

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Mit Prägnanz bringt Marco Storman Lenz‘ seelisches Chaos auf die Bühne. Fotos: Landsberg
Mit Prägnanz bringt Marco Storman Lenz‘ seelisches Chaos auf die Bühne. Fotos: Landsberg © -

Bremen - Von Peter Wolff. Jakob Reinhold Michael Lenz – das ist der manisch auf Goethe fixierte, exzentrische Sturm- und Drangdichter, der 1792 auf den Straßen Moskaus als Bettler endete. 15 Jahre zuvor hatte der Arzt und Apotheker Christoph Kaufmann, ein Freund Goethes und Lavaters, den seelisch verstörten Dichter nach einem schizophrenen Schub zu dem elsässischen Landpfarrer Johann Friedrich Oberlin geschickt. Dort blieb Jakob Lenz – bis seine Anfälle zu Selbsttötungsversuchen führten.

Aufgrund seiner Leidensgeschichte ist Lenz selbst zur literarischen Figur geworden. Georg Büchner hat in einer Novelle, die pathologische Studie über das wahnsinnig gewordene Genie ist, dargelegt, wie Lenz in geistige Umnachtung fiel. Als „Chiffre von Verstörung“ begriff Wolfgang Rihm Lenz – und wie bei Büchner sind es auch in seiner Kammeroper, die nun am Theater Bremen Premiere feierte, Erinnerungsbilder, die angstvoll in Lenz aufsteigen und ihn vollends den Dämonen seiner kranken Seele anheimfallen lassen.

Rihm lässt Jakob Lenz schreien und stammeln, mit erstickter Stimme weinen und flüstern und treibt ihn in hohe Falsettlagen. Der Bassbariton Claudio Otelli bewältigt in Bremen diese extrem schwierige Partie exzellent. Er singt und haucht, keucht und jault, schreit und flüstert. Auch schauspielerisch kann er überzeugen, etwa in jenen Passagen, in denen er die stockenden Sarabanden-Rhythmen, mit denen Rihm seelische Starre signalisiert, körperlich umsetzt.

Will man das heikle Problem einer optischen Umsetzung dieses komplexen Werkes angehen, dann muss dies so behutsam, so sparsam und taktvoll wie möglich geschehen. Mit der Sachlichkeit des Diagnostikers hatte Georg Büchner die Schizophrenie von Lenz beschrieben. Und mit ähnlich größtmöglicher Sachlichkeit, zu der ein Regisseur fähig ist, hat Marco Storman nun das seelische Chaos dieses verzweifelten Menschen mit Prägnanz und ohne äußerlichen Effekte auf die Bühne gebracht. Kongenial dazu ist das Bühnenbild von Jil Bertermann, die das anatomische Theater, das 1594 in Padua errichtet wurde, nachgebaut hat. Also jener Ort, an dem der Mensch der Renaissance sich für das konkrete, individuelle Innere des Menschen interessierte.

Der Sezierplatz, auf dem Lenz überwiegend agiert, wird mit Wasser aufgefüllt, wohl als Symbol des Unterbewussten. Oberlin, der Lenz verständnislos gegenübersteht, bringt keine Hoffnung in dessen trostloses Leben. Er trocknet ihn im Laufe der „Behandlung“ mit Pulver sprichwörtlich aus. Christoph Heinrich überzeugt als Obelin gesanglich wie auch darstellerisch, das gilt auch für Christian-Andreas Engelhardt (Kaufmann). Durch die Kostüme (Sara Kittelmann) wird klar, dass auch diese beiden Personen als „Kopfwelten“ von Lenz konzipiert sind. Dass das ganze Geschehen im Sinne eines Trugbilds zu verstehen ist, bekräftigen sechs solistische Stimmen, die quasi als Dämonen fungieren. Als Zuschauer bleibt man immer im Ungewissen über die Realitätsschichten. Jeder muss sich sein eigenes Verständnis des gezeigten Vorgangs bilden. Wahrlich eine grandiose Idee.

Wahrscheinlich war es vom Inzenierungsteam unbeabsichtigt, aber diese Sichtweise auf Lenz, der unbeirrt seinen eigenen Weg ging, hat ganz viel Ähnlichkeit mit den Film „Verborgenes Leben“ von Terrence Malicks, in dem ein Mann bereit ist, für seine pazifistischen Überzeugungen in den Tod zu gehen und für seine Aufrichtigkeit von der Gesellschaft geächtet wird.

Nur aus elf Instrumenten besteht das erhöht hinter der Bühne postierte kleine Orchester, doch auch oder gerade diese „extreme Kammermusik“ vermittelt Stimmungen von beklemmender Dichte. Dass der musikalische Sprachfluss sich nie in leerer Gestik verliert, ist der überlegenden Steuerung von Dirigent Killian Farrell zu verdanken. Fazit: Eine intelligente Inszenierung, die es sich anzuschauen lohnt.

Sehen

„Jakob Lenz“ ist das nächste Mal am Donnerstag, 14. und 26. Februar sowie am 1., 20. und 31. März, jeweils um 19.30 Uhr, zu sehen.

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