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Die Kriege der Humanisten

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Es reicht für alle, aber man merkt es nicht: Mirko Borscht verzweifelt am real existierenden Humanismus. ·
Es reicht für alle, aber man merkt es nicht: Mirko Borscht verzweifelt am real existierenden Humanismus. · © Foto: Theater

Bremen - Von Johannes BruggaierEuropa in Schutt und Asche. USA und Israel von der Weltkarte getilgt. Und ein Dreigestirn aus China, Russland sowie einem islamischen Superstaat als Herrscher der Welt: So sieht die Zukunft aus, jedenfalls in „Europa“, einer Produktion von Mirko Borscht, die am kommenden Samstag am Theater Bremen Premiere feiert.

In Anlehnung an Lars von Triers gleichnamigen Film von 1991 entwirft der mit seinem Film „Kombat Sechzehn“ bekannt gewordene Regisseur ein finsteres Szenario unseres so wohlsituierten Kontinents. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt er den zu erwartenden Abstieg.

Herr Borscht, das Nobelpreiskomitee feiert die EU, Politiker und Leitartikler beschwören den europäischen Gedanken. Nur am Theater Bremen endet unser Kontinent im Slum. Warum?

Borscht: Die Verleihung des Nobelpreises war zynisch. Dabei bin ich durchaus bereit, die Europäische Union als stabilisierendes Element der Gegenwart anzuerkennen. Stabilisierend insofern, als die Einwohner der EU ihre moralische Orientierung verloren haben.

Uns fehlt die Moral?

Borscht: Wir können jedenfalls nicht mehr einschätzen, ob unser Handeln gut ist oder nicht. Ein Beispiel: Wenn ich ein Dorf in Afrika unterstütze, kann es mir passieren, dass davon letztlich nur ein Konzern profitiert, der dezidiert europäische Interessen verfolgt. Unsere Gegenwart ist von solchen moralischen Konfliktsituationen durchdrungen. Zumindest für ihre Mitgliedsstaaten selbst garantiert die EU da eine gewisse Stabilität.

Warum ist dann die Nobelpreisverleihung zynisch?

Borscht: Weil dieser Preis zwar 60 Jahre Frieden in Europa würdigt, dabei aber erstens den Balkan ausklammert und zweitens auf ein überholtes Kriegsverständnis abzielt. In Wahrheit führt Europa heute immer noch Kriege, nur anders. Das Machtspektrum wird heute nicht mehr mit militärischen Mitteln erweitert, sondern mit wirtschaftspolitischen. Die Ergebnisse sind die gleichen.

„Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“: Das ist in Ihrem Stück ein Zitat aus Dostojewskis „Dämonen“, eigentlich aber aus der Offenbarung des Johannes. Bei Johannes richtet sich der Vorwurf an eine dekadente Gemeinde in der heutigen Türkei. Bei Dostojewski dagegen steht er in einem unheimlichen Zusammenhang mit geheimen Wünschen, die unversehens körperliche Auswirkungen zeigen. Gibt es in unserer Gesellschaft eine geheime Sehnsucht nach dem eigenen Untergang?

Borscht: Leider kann ich diese Frage nicht mit „Nein“ beantworten. Es stellt sich für mich die Frage, wo wir in Europa eigentlich nicht lau sind: wo es das Warme oder Kalte gibt, zu dem wir uns mit voller Überzeugung bekennen können, ohne dabei unsere Individualität aufgeben zu müssen. Und was die geheimen Fantasien betrifft, so betreiben wir einen immensen Aufwand der Verschleierung.

Der Verschleierung?

Borscht: Jeder weiß, dass bestimmte Ressourcen zu Ende gehen und Wachstum nicht ewig funktionieren kann. Und doch sind wir nicht bereit, unser Leben grundlegend zu verändern. Stattdessen schieben wir die Schuld lieber auf das fiktive Böse: den Kapitalismus, den Markt, die Firma. Dass wir alle im Kleinen exakt wie diejenigen handeln, die wir im Großen kritisieren, merken wir gar nicht.

Wer eine Tafel Schokolade kauft, muss damit rechnen, dass die Kakaobohnen von Kindern zerhackt worden sind. Und wer ein moralisch einwandfrei hergestelltes Kleidungsstück sucht, hat ein Problem. Das wissen wir – aber machen uns kein Gewissen daraus. Weil mit Thomas Hobbes der Mensch dem Menschen ein Wolf ist!

Borscht: Dem stimme ich vollkommen zu und nehme mich selbst dabei nicht aus. Im Gegenteil: Dadurch, dass ich in einem subventionierten Haus dieses Problem aufzeige, stütze ich das System womöglich noch. Was mich am meisten ärgert, ist aber nicht diese Ambivalenz selbst, sondern deren Verleugnung. Die verbreitete Überzeugung, dass wir in unserem Alltag moralisch handeln.

Ist das nicht vielmehr eine bewusste Ignoranz?

Borscht: Es kommt mitunter eine erhellende Dokumentation auf Arte. Die schaut man sich dann an, trinkt tags darauf einen gepflegten Kaffee miteinander und unterhält sich nett darüber. Ob man sich über den „Tatort“ streitet oder über die Situation im Kongo, das nimmt sich meistens nichts. Noch einmal: Ich finde diese Schizophrenie sehr menschlich. Wir sollten aber zu ihr stehen.

Übernehmen China und Russland die Weltherrschaft, weil man dort zu dieser Schizophrenie steht?

Borscht: Durch den eingepaukten real existierenden Sozialismus hat man in diesen Ländern diesen hohen Grad der Individualität noch nicht entwickelt. Das diktatorische oder zumindest das hierarchische Prinzip ist deshalb noch viel stärker verankert. Damit sage ich nicht, dass mir das gefällt: Natürlich möchte ich selbst auch nicht in einer Diktatur leben, sondern meine eigene Individualität entfalten.

In den westlichen Demokratien ist die Majorität also nicht wirklich bereit, auf ihren materiellen Vorteil im Hier und Heute zu verzichten. Was sich ablesen lässt, am mehrheitlichen Kaufverhalten von uns Kunden der Textil- und Nahrungsmittelindustrie. Aber muss das zwangsläufig das Scheitern des neuzeitlichen Demokratiemodells bedeuten?

Borscht: Es gibt zwei Prinzipien. Das erste lautet: Es reicht für alle. Das zweite: Es reicht nicht für alle. Der Humanismus geht von der Idee aus, dass es für alle reicht – auch wenn wir zurzeit das Gegenteil erleben. Eine Diktatur, die sich zur Ausbeutung bekennt, weil es eben nicht für alle reicht, ist tendenziell stabiler. Als Humanist bin ich der Überzeugung, dass es eigentlich für alle reichen müsste, wenn wir nur zum Teilen bereit wären. Die Diskrepanz unseres humanistischen Selbstverständnisses einerseits und unseres tatsächlich inhumanen Handelns andererseits: Darin besteht die größte Gefahr für unsere Demokratie.

Die Premiere von „Europa“

findet am kommenden

Samstag, 20 Uhr,

am Theater Bremen statt.

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