Der Verschleierung?
Borscht: Jeder weiß, dass bestimmte Ressourcen zu Ende gehen und Wachstum nicht ewig funktionieren kann. Und doch sind wir nicht bereit, unser Leben grundlegend zu verändern. Stattdessen schieben wir die Schuld lieber auf das fiktive Böse: den Kapitalismus, den Markt, die Firma. Dass wir alle im Kleinen exakt wie diejenigen handeln, die wir im Großen kritisieren, merken wir gar nicht.
Wer eine Tafel Schokolade kauft, muss damit rechnen, dass die Kakaobohnen von Kindern zerhackt worden sind. Und wer ein moralisch einwandfrei hergestelltes Kleidungsstück sucht, hat ein Problem. Das wissen wir – aber machen uns kein Gewissen daraus. Weil mit Thomas Hobbes der Mensch dem Menschen ein Wolf ist!
Borscht: Dem stimme ich vollkommen zu und nehme mich selbst dabei nicht aus. Im Gegenteil: Dadurch, dass ich in einem subventionierten Haus dieses Problem aufzeige, stütze ich das System womöglich noch. Was mich am meisten ärgert, ist aber nicht diese Ambivalenz selbst, sondern deren Verleugnung. Die verbreitete Überzeugung, dass wir in unserem Alltag moralisch handeln.
Ist das nicht vielmehr eine bewusste Ignoranz?
Borscht: Es kommt mitunter eine erhellende Dokumentation auf Arte. Die schaut man sich dann an, trinkt tags darauf einen gepflegten Kaffee miteinander und unterhält sich nett darüber. Ob man sich über den „Tatort“ streitet oder über die Situation im Kongo, das nimmt sich meistens nichts. Noch einmal: Ich finde diese Schizophrenie sehr menschlich. Wir sollten aber zu ihr stehen.
Übernehmen China und Russland die Weltherrschaft, weil man dort zu dieser Schizophrenie steht?
Borscht: Durch den eingepaukten real existierenden Sozialismus hat man in diesen Ländern diesen hohen Grad der Individualität noch nicht entwickelt. Das diktatorische oder zumindest das hierarchische Prinzip ist deshalb noch viel stärker verankert. Damit sage ich nicht, dass mir das gefällt: Natürlich möchte ich selbst auch nicht in einer Diktatur leben, sondern meine eigene Individualität entfalten.
In den westlichen Demokratien ist die Majorität also nicht wirklich bereit, auf ihren materiellen Vorteil im Hier und Heute zu verzichten. Was sich ablesen lässt, am mehrheitlichen Kaufverhalten von uns Kunden der Textil- und Nahrungsmittelindustrie. Aber muss das zwangsläufig das Scheitern des neuzeitlichen Demokratiemodells bedeuten?
Borscht: Es gibt zwei Prinzipien. Das erste lautet: Es reicht für alle. Das zweite: Es reicht nicht für alle. Der Humanismus geht von der Idee aus, dass es für alle reicht – auch wenn wir zurzeit das Gegenteil erleben. Eine Diktatur, die sich zur Ausbeutung bekennt, weil es eben nicht für alle reicht, ist tendenziell stabiler. Als Humanist bin ich der Überzeugung, dass es eigentlich für alle reichen müsste, wenn wir nur zum Teilen bereit wären. Die Diskrepanz unseres humanistischen Selbstverständnisses einerseits und unseres tatsächlich inhumanen Handelns andererseits: Darin besteht die größte Gefahr für unsere Demokratie.
Die Premiere von „Europa“
findet am kommenden
Samstag, 20 Uhr,
am Theater Bremen statt.