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Live aus dem Hexenkessel

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Syke - Von Rolf Stein. Es war ja nicht nur eine andere Zeit, sondern auch ein anderes Land, eine andere Welt, als Ted Gaier mit einigen Gleichgesinnten in Hamburg die Band Die Goldenen Zitronen gründete. Mit Songs wie „Am Tag als Thomas Anders starb“ und „Für immer Punk“ wurden sie schnell bekannt. Aber sie als schlichte Spaßvögel mit Freude an der Provokation abzuheften, war schon damals nicht ganz zutreffend.

Dann kam das Ende der DDR, und mit der Mauer fiel manch andere Schranke. Ein erstarkendes Verlangen, wieder stolz auf Deutschland sein zu dürfen, eine einigermaßen beispiellose Serie rechter Terroranschläge – kein Ort und keine Zeit für pubertäre Witze. Die Goldenen Zitronen, von manchen Fans zumindest damals liebevoll „Goldies“ genannt, erfanden sich neu, musikalisch wie lyrisch. „Das bisschen Totschlag“ hieß das Album, mit dem die Band die Geschehnisse von Rostock-Lichtenhagen, Mölln und anderswo verarbeitete. Fortan fasste die Gruppe ihre Musik immer wieder neu, um auch ästhetisch subversiv zu bleiben.

Gaier, wie auch seine Kollegen, war derweil wohl noch nie ganz ausgelastet von den Zitronen. Und führte bei diversen Video-Clips Regie, schrieb Theatermusik und steht auch selbst immer wieder auf der Bühne. In Bremen war er mehrmals in Stücken von Gintersdorfer/Klaßen zu sehen, zuletzt 2018 in „Nathan der Weise“.

Dass er aber auch ein spannender Autor ist, belegt jetzt der Band „Argumentepanzer“, der Artikel, Essays und Songtexte aus den vergangenen 20 Jahren versammelt.

Wer schon einmal ein Interview mit Gaier gesehen oder gelesen hat und sich auch nur ein wenig mit den Texten der Goldenen Zitronen befasst hat, weiß, dass hier ein sehr wacher, sehr politischer Geist am Werk ist, dem es mit seinen politischen Einsichten und Überzeugungen ernst ist, ohne dass er darüber den Sinn für Ästhetik verlöre. „Argumentepanzer“ belegt das aufs Schönste. Von Berichten gewissermaßen live aus den Hexenkesseln eskalierender Proteste in Athen und Prag über teilnehmende Einblicke in die Kämpfe um Rote Flora und Esso-Häuser in Hamburg bis hin zu Überlegungen zu Marius Müller-Westernhagen und Herbert Grönemeyer, von Reportagen aus Bukarest und dem Sonar-Festival in Barcelona über Erkundungen der Kunst von Stereo Total und Wesley Willis bis zu Gaiers eigenen Songtexten spannt sich der Bogen dieser Texte, in denen sich Politik und Kunst, Individuum und Kollektiv immer wieder begegnen. Dabei sortiert sich die Welt bei Gaier nicht allein in korrekt und inkorrekt, in links und rechts, progressiv und reaktionär, sondern auch Kategorien wie cool spielen durchaus eine Rolle. Was derweil romantisch für Ted Gaier sein könnte, um es mit Knarf Rellöm zu fragen, lässt sich sozusagen zwischen den Zeilen herauslesen. Es dürfte mit einer gesellschaftlichen Utopie oder vielleicht auch mehreren zu tun haben, der nachzusinnen nicht das Bestehen auf einem richtigeren Leben im falschen verhindert. Ein ausgesprochen kurzweiliges Kompendium.

Lesen

Ted Gaier: „Argumentepanzer“, Verbrecher Verlag, 250 Seiten, Broschur, 18 Euro.

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