Mehr Mut zur Müllabfuhr
Bremen - Von Rainer Beßling(Eig. Ber.) · Heißt ein Kunstwerk „September 12“, dürfte die Mehrheit an den Folgetag des Terroranschlags auf die Twin Towers denken. Die türkische Videokünstlerin Özlem Sulak aber erinnert in ihrer Video-Installation an ein anderes Ereignis.
Am 12. September 1980 putschte das Militär in der Türkei, zum dritten Mal in der Geschichte des Landes. Vorausgegangen waren die Eskalation wirtschaftlicher und sozialer Spannungen sowie gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppierungen. Die Folgen des Staatsstreichs sind nicht nur in erschreckenden Opferzahlen belegt. Während der Militärdiktatur erlassene restriktive Gesetze und Verordnungen wirken heute noch in der Türkei nach.
Auch Deutschland blieb von dem Militärputsch nicht unberührt. Etwa 60 000 der vor dem Militärterror Geflüchteten ließen sich in der Bundesrepublik dauerhaft nieder, anders als bei den ersten Einwanderungswellen aus der Türkei vorwiegend Intellektuelle und zu zwei Dritteln Kurden.
Özlem Sulak wurde 1979 geboren. Als die derzeit in Hannover und Bremen ansässige Künstlerin im Jahr 2006 nach Deutschland kam, entdeckte sie schnell ihr Thema: Was heißt es, als Türkin in Deutschland zu leben? Sie recherchierte in der eigenen Familienchronik und entdeckte die Verschränkungen zwischen der türkischen und deutschen Geschichte. Die Verbindung von persönlicher Perspektive und politischer Dimension prägt auch ihre Installation „September 12“, die jetzt im Rahmen der 18. Ausstellung „Videokunst Förderpreis Bremen“ in der Städtischen Galerie am Buntentorsteinweg zu sehen ist.
Özlem Sulak ist in mehrere türkische Städte gefahren, um Menschen aus unterschiedlichen Schichten zu fragen, wie der Tag des Putsches für sie verlief. Eine Auswahl aus den Interviews, bei denen die Befragten in einer ihr Leben prägenden Tätigkeit gefilmt sind, kann der Ausstellungsbesucher an zwölf unregelmäßig im Raum verteilten Monitoren verfolgen. Schon der erste Eindruck vermittelt, dass sich individuelle Erfahrungen und subjektive Wahrnehmung des überwiegenden Teils der Bevölkerung nicht einförmig hinter einem Chronikeintrag aufreihen, dass Arbeits- und Familienalltag auch an einschneidenden historischen Wendepunkten weitergeht. Eine knappe Stunde muss sich der Besucher für den Interview-Parcours Zeit nehmen. Es lohnt sich: Die ruhigen Bilder und persönlichen Blickwinkel wecken Interesse am historischen Datum und füllen dieses mit Leben.
Sabrina Muller, weitere Preisträgerin, deren Arbeit „Das Reich der Tiere“ gemäß der Bremer Förderpreis-Idee vor einem Jahr als Konzept ausgezeichnet und nun realisiert wurde, hat ihre Kamera an einem politisch belasteten Ort aufgestellt: Sarajewo. Allerdings will die junge Künstlerin ihr Werk nicht mit der Realgeschichte und -gegenwart kurzgeschlossen wissen. Als „poetischen“ Beitrag im Vergleich zu Sulaks „dokumentarischem“ begreift auch Förderpreis-Kuratorin Marikke Heinz-Hoek die Arbeit Mullers. Kryptisch schildert die Pressemitteilung der Städtischen Galerie die Entscheidungsfindung beim Muller-Konzept. „Chaos und Wahnsinn“ würden frühere Arbeiten der in Paris und Berlin ansässigen Künstlerin kennzeichnen, „Animalität und Bestialität“ seien ihr Thema. Erstaunlich mutet hier an, dass sich dahinter eine „klare künstlerische Position“ offenbaren solle.
Was Mullers „Reich der Tiere“ als letztes schafft, ist Klarheit. Das muss nicht schlecht sein, wenn im Dschungel der Motive und Themen formale Entschlossenheit oder Brillanz aufblitzen würde. Diese zu erkennen, fällt nicht leicht. Was an der Videoinstallation gewürdigt werden könnte, ist das offene Zusammenspiel zwischen Gedanken an einen Tatort und ruhigen Naturaufnahmen, die Landschaft in freier und umhegter Natur, archaische Gewaltszenarien wie die Thematisierung der Davidschen Schleuder und das Umkreisen eines ausgestopften Geiers im Naturkundemuseum einschließen. Oder wäre das zu eng gefasst bei einer Künstlerin, die „einfach Gras mag“ und angesichts einer Jury, die unsagbar Eigenes und Besonderes in dem „jungen Talent“ identifiziert? Dass sie es verstehe, „zeitgenössische Themen im Video umzusetzen, ohne den Zeigefinger zu heben“, kann ja nicht der Grund für den Preis gewesen sein.
Der dritte gekürte Beitrag ist das „kreative multimediale Projekt“ der Gruppe „eteam“ mit dem Titel „Second Life Dumpster“. Zu Szenen aus dem Internetszenario „Second Life“ hängen zwischen Sitzmöbeln und Leuchten Elektroartikel-Verpackungen von der Decke. Das Müllthema des virtuellen Raums wird so auf schlichte Weise greifbar. Die „eteamer“ Franziska Lamprecht und Hajoe Moderegger haben sich in der digitalen Parallelwelt weniger mit Aufbau als mit Abfuhr beschäftigt. Vielleicht können wir ja so aus der Webwelt lernen, wie wir bei jeder Warenzufuhr auch gleich an die Entsorgung denken. Oder wir verlagern unsere Aufbauleistungen gleich ganz ins Internet. Da reicht dann für den Weg, bei dem sich die Wachstums- und Überflussgesellschaft chronisch schwer tut, der Löschbefehl.
Die Bremer Videokunst-Förderpreis-Ausstellung mit letztjährig prämierten Konzepten und nun realisierten Arbeiten wird heute, 19 Uhr, in der Städtischen Galerie Bremen eröffnet und ist bis zum 14. Februar zu sehen. Außerdem werden heute die neuen Preisträger benannt.