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Comic blickt auf Erich Mühsams Leben

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3faf280f-7900-4d69-ab0f-478449123c08.jpg © Verlag

Syke - Von Jan-Paul Koopmann. Als Erich Mühsam heute vor 84 Jahren im KZ Oranienburg ermordet wurde, da waren die Nazis gerade mal seit einem Jahr an der Macht. Der Schriftsteller, Anarchist, Jude und Revolutionär Mühsam gehörte zu den ersten Internierten – die, mit denen man es eilig hatte. Die Wachmannschaft hat ihn in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 totgeprügelt und anschließend in der Latrine aufgehängt, um einen Suizid vorzutäuschen.

In Jan Bachmanns kürzlich erschienenen biografischen Comic „Mühsam – Anarchist in Anführungszeichen“ (Edition Moderne) kommt dieser grauenhafte Mord nicht vor, und auch die kämpferischen Jahre zuvor nicht: die Novemberrevolution, das Gefängnis und die innerlinken Auseinandersetzungen der 20er-Jahre. „Anarchist in Anführungszeichen“ erzählt stattdessen vom Jahr 1910, als Mühsam völlig pleite, ausgebrannt und verliebt auf Kur in der Schweiz sitzt und im Grunde gar nichts tut.

Wobei, ganz richtig ist das natürlich nicht: Mühsam denkt und schreibt. Vor allem beginnt er dort oben seine Tagebücher, die heute erfreulicherweise einige Aufmerksamkeit erfahren, seit sie herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens nach und nach im Berliner Verbrecher Verlag erscheinen. An denen liegt es auch, dass der Comickünstler Jan Bachmann nun gerade hier einsteigt in Mühsams sonst bewegteres Leben. Die Off-Texte des Comics stammen direkt aus den Tagebüchern, Zeichnungen und Sprechblasen sind Bachmanns Fiktion.

Die Idee ist so hübsch wie die Bilder: skizzenhaft gekritzelte Zeichnungen, die dann aber aufgehen in der farbsatten Kolorierung. Dass Frankreichs Comicstar Joann Sfar hier Pate stand, ist nicht zu übersehen, auch wenn die Leichtigkeit von dessen Aquarellen fehlt. „Anarchist in Anführungszeichen“ ist mehr als eine illustrierte Ausgabe des ersten Tagebuchbandes – und zugleich auch weniger. Bachmann versucht sich an einer eigenen Deutung des Mühsam-Textes, konfrontiert ihn mit seinen Zeichnungen. Mal bricht er ihn ironisch, mal verstärkt er ihn. Es ist ein ergebnisoffenes Spiel mit dem Text, das zwar viele schöne Momente schafft, sich dabei aber doch immer wieder auch verrennt in Bachmanns aufmerksamen aber ziellosen Lektüren.

„Nicht viel zeitprophetisches zu vermerken“

„Ich werde in mein Tagebuch nicht viel zeitprophetisches zu vermerken haben“, schreibt Mühsam bedauernd ganz am Anfang. Im Bild unter diesem Zitat sind die Schatten anderer Kurgäste zu sehen und eine Sprechblase: „Können Sie mir den Salzstreuer reichen“. Eine wunderschöne Dopplung, aber eben auch eine Ablenkung von dem, was heute an Mühsams Todestag weit mehr drängt: Das Wissen nämlich, dass die Umstürze wenige Jahre später ja tatsächlich kamen – und den Tod der meisten bedeutet, die sich hier noch nach Revolutionen sehnen.

Nein, auch 1910 war die Welt nicht in Ordnung, und es wäre auch falsch, die Ermordeten darauf zu reduzieren. Und dennoch atmet dieser Band eine Naivität, die das Tagebuch so nicht hat. Wo Mühsam Untertöne anschlägt und wo die Gedanken noch Platz für ihre eigenen Widersprüche haben – statt sich eben nur noch an Zeichnungen zu reiben. Aber dennoch: Wer Mühsam kennt und mit seinem Schreiben vertraut ist, der gewinnt hier eine neue Perspektive, einen zweiten Blick, der sich durchaus lohnen kann. Und wer das nicht tut: der greife lieber doch erst mal zum Tagebuch.

Jan Bachmann: Mühsam, Anarchist in Anführungsstrichen. 2018, Edition Moderne, 96 Seiten, Klappenbroschur, 19 Euro;

Erich Mühsam: Tagebücher 1. 1910-1911, 2011 Verbrecher Verlag, 352 Seiten, Leineneinband, 28 Euro.

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