1. Startseite
  2. Kultur

Sonnenlicht in Schachteln

KommentareDrucken

Die Uhr kommt auch nicht weiter: Video-Loop „10:51“ von Jorge Macchi.
Die Uhr kommt auch nicht weiter: Video-Loop „10:51“ von Jorge Macchi. © -

Bremen - Von Rainer Beßling(Eig. Ber.) n In einem früheren Leben war Jorge Macchi Musiker. Das heißt, er studierte das Klavierspiel. Die Erfahrung hat Spuren im Werk des argentinischen Künstlers hinterlassen.

In der Galerie des Künstlerhauses Bremen, wo derzeit die erste institutionelle Soloschau Macchis zu sehen ist, hängt ein Notenblatt an fünf langen Stahlseilen. Mit dem Gedanken an eine Schießscheibe liegt der Betrachter vermutlich gar nicht ganz falsch. Macchi hat in einem anderen Bildobjekt auch schon Nägel auf und zwischen Notenlinien gesetzt, so dass die Partitur mit Stahl und Schattenwurf einen reichlich martialischen Auftritt bekommt.

Offenbar steht der Künstler in einem gespaltenen Verhältnis zur Klangwelt. Richtig warm geworden ist er mit seinem Instrument nicht. Blattspielen und Auswendiglernen empfand er, wie er sagt, als Qual. Dennoch vermittelt seine Installation „5 Notes“ in der Bremer Ausstellung auf poetische und dingliche Weise zugleich den Reiz und die Eigenart der Musik.

Schwebend hängen hier materiale Statthalter von Tönen im Raum. Die Seile sind in ihrer Referenz zu Saiten Sinnbild mit unterschiedlichen Vorzeichen. Die harmonische Schichtung der Töne und die melodische Entwicklung werden als flüchtige aufgespannt. Die Abstraktion des Zeichnerischen, Merkmal nicht nur der Notenschrift, sondern aller grafischen Fixierungen, fällt in Jorge Macchis Arbeiten zusammen mit dem Raum als Wahrnehmungsrahmen und -träger und dem Großthema der Zeit, der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit.

Die erste Arbeit im Künstlerhaus stellt sich dem Besucher förmlich in den Weg, so als wolle sie sich wie ein Stolperstein als körperlich-räumliche Erfahrung in die Wahrnehmung einschreiben. Der Impuls für die Schachtel-Felder auf dem Galerieboden mit dem bezeichnenden Titel „Souvenir“ ist nämlich ein höchst flüchtiger: der Einfall des Sonnenlichts. Dieser verfestigt sich nun in warmgelben Kartons als ein Objekt, das die Gedanken des Einfangens, Aufbewahrens und Weitertragens in sich trägt und somit unmittelbar sinnfällig macht. Dabei handelt es sich um eine fiktive Abnahme des Lichts: Umliegende Häuser verhindern den Einfall des Sonnenscheins in diesem Winkel.

Die Präsenz des Künstlers im Raum bezeugt die Wandmalerei „My Wave“: blaugraue Pinselschwünge gemäß dem Körpermaß und der Reichweite Macchis. Wie sich Linien im Raum auf den Weg machen und an einen anderen Bildträger andocken, zeigt die papierne Installation „Shy“. Sechs Blätter hängen unspektakulär und blank an der Wand. Der Besucher muss die eigene „Schüchternheit“ überwinden und hinter die verschämten Deckblätter schauen, um zu erkennen, dass sich Linien abgelöst und an einem anderen Ort niedergelassen haben.

Scheinen sich einige Arbeiten des Argentiniers gegen die Vergänglichkeit zu stemmen, skizziert die Videoprojektion „10:51“ das Anhalten der Zeit – und vermittelt damit ein geradezu katastrophisches Empfinden. Der Zeiger einer Uhr scheint von der Raumdecke gebremst zu werden, eine tiefe Unruhe angesichts des Widerstands gegen die chronometrische Unruhe stellt sich ein. Sollten wir als nicht heilfroh sein über die Grundtatsache und -achse unseres Daseins, über den Lauf der Zeit?

In einem Daumenkino mit dem gleichen Titel wie das Video wachsen die Trennungspunkte bei der digitalen Zeitangabe plötzlich so an, dass die Ziffern für die Stunden und Minuten verschwinden. Ein Strudel saugt die Zeit auf, der Blick fällt in einen Abgrund, während die gezeichneten Blätter vor dem Auge vorbei rasen.

Konzept und Anschaulichkeit sind in dieser formal wie motivisch äußerst gelungenen Ausstellung fest verklammert. Dass Macchi stets von Bildern aus und in Bildern denkt, befördert die ästhetische Präsenz seiner Arbeiten. Dass er als Zeichner im Raum agiert, sichert den spannungsvollen Pendelschlag zwischen Entwurf und Verfestigung, Abstraktion und Konkretion, Gedanke und Objekt.

(bis 15. November)

Auch interessant

Kommentare