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Das Festival „Tanzthater International“ geht nicht nur auf Nummer sicher

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Hiroshi Ito (l.) und Kaori Ito Foto: Gregory Batardon
Hiroshi Ito (l.) und Kaori Ito. © Gregory Batardon

Hannover - Von Jörg Worat. 90 Prozent Auslastung und rund 3 000 Besucher: „Tanztheater International“ hält seinen Standard. Und festigt den Ruf Hannovers als Tanzstadt, zumal Christiane Winter, Leiterin der Veranstaltungsreihe, keineswegs immer nur die sichere Schiene fährt und es fast immer neben großer Begeisterung auch, zumindest im Einzelfall, entschiedene Ablehnung gibt. Bei der diesjährigen Ausgabe beides sogar am selben Abend: Pere Fauras „Sweet Tyranny“, eine selbstironische, sehr laute und sehr lange Aneignung von Meilensteinen des Tanzfilms zwischen „Grease“ und „Flashdance“, führte teils zu vorzeitiger Massenflucht, teils zu Jubelstürmen.

Inhaltlich gab es wie immer eine breite Streuung, am ehesten konnte man einen Schwerpunkt beim Thema „Alter“ ausmachen. Die Japanerin Kaori Ito (39) holte für ihre Performance mit dem schönen Titel „I dance because I do not trust words“ ihren Vater Hiroshi (76) auf die Bühne der Musikhochschule. Er hat einst am Theater angefangen und schwenkte, wohl ebenfalls wegen einer gewissen Skepsis gegenüber den Worten, zur Bildhauerei um. Und im Gegensatz zur Tochter, die in New York studierte und seit geraumer Zeit in Frankreich lebt, ist er der japanischen Heimat verhaftet geblieben. So wurde das Themenfeld neben den Spannungen innerhalb einer Künstlerfamilie durch einen gewissen Culture Clash erweitert.

Gemessen am Titel gerät die Vorstellung durchaus sprachlastig, und es dauert eine Weile, bis Bewegung ins Spiel kommt. Kaori Ito startet eine Butoh-angehauchte Szene über die Entwicklung von der fötalen Haltung hin zum schwankenden Stehen auf zwei Beinen, und irgendwann erhebt sich auch Hiroshi von seinem Stuhl. Sein Tanz wirkt dann überraschend selbstverständlich, nachgerade lässig, bis sich das Duo in wunderbare Albereien stürzt, die Hände in einer Parodie von Jazz-Moves schüttelt und der Vater auf Zuruf der Tochter mal auf Michael Jackson und mal auf Madonna macht. Irgendwann tritt er unauffällig ab, aber für Kaori Ito steht noch eine Schlusspointe aus: Sie enthüllt eine mächtige Skulptur von Hiroshi im Bühnenhintergrund. Und betrachtet sie lange sinnend – einer der vielen schönen Momente dieser ebenso fremdartigen wie anrührenden Performance.

Noch beeindruckender allerdings „GO!“ in der Orangerie – so lautet der fetzige Titel einer Deutschen Erstaufführung der israelischen Choreografin Galit Liss mit 18 Damen jenseits der üblichen Besetzungen: Keine von ihnen tanzt professionell, und die Altersspanne zwischen Anfang 60 und Mitte 80 entspricht auch nicht der Festivalnorm. Doch beides spielt bei der Performance bald überhaupt keine Rolle mehr.

Anfangs gibt‘s zu betont schmissiger Musik eine Art Parodie auf Bodengymnastik, komplett mit Anweisungen per Trillerpfeife. Diese Strenge macht bald einem wesentlich breiteren Bewegungsrepertoire Platz, und es entsteht eine wunderbare Balance zwischen Individualität und Kollektiv. Da tanzt schon mal eine Seniorin traumverloren vor sich hin; es gibt aber auch Momente, in denen sich die Damen gegenseitig stützen und schützen.

Die Akteurinnen machen keineswegs auf gewollt jugendlich, und es bleibt nicht verborgen, dass das Aufstehen nach den Bodenfiguren hier und da etwas Mühe bereitet. Die Ästhetik der Bewegungen leidet darunter indes nicht, und die geballte Lebenserfahrung der Tänzerinnen äußert sich zusätzlich in ihren Erzählungen.

Gleich mehrfach taucht die Geschichte von der kindlichen Tanzleidenschaft auf, der die Eltern einen Riegel vorschoben, weil der Nachwuchs doch bitte etwas Anständiges werden sollte. „Ich habe mit dem Tanzen aufgehört und dachte dann, es sei zu spät, wieder anzufangen“, sagt eine der Damen. Und zeigt mit ihren Kolleginnen das vielleicht schönste Schlussbild, das es bei diesem Festival zu sehen gab.

Offenbar ist es nie zu spät. Auch nicht dafür, stürmischen Applaus und stehende Ovationen zu bekommen.

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