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„In Wahrheit mache ich nichts anderes, als Grenzen zu versetzen“

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Sylvie Testud ·
Sylvie Testud © Foto: Biard

Bremen - Von Johannes Bruggaier. Drei Fragen haben Regisseurin Caroline Link genügt. Danach stand die bis dahin weitgehend unbekannte Sylvie Testud als Hauptdarstellerin von „Jenseits der Stille“ fest.

Es geht in diesem Film um eine Klarinette spielende Tochter eines gehörlosen Paares aus Deutschland. Und so lautete Links naheliegende Frage Nummer eins: „Sprichst du Deutsch?“ Frage Nummer zwei: „Kannst du Klarinette spielen?“ Und Nummer drei: „Kennst du einen Taubstummen?“ Die Antworten der damals 25-jährigen Testud: „Nein. Nein. Nein.“ „Dann“, so soll Link damals erwidert haben, „sollten wir den Film zusammen machen“.

Heute, 18 Jahre nach ihrem internationalem Durchbruch mit „Jenseits der Stille“, zählt Testud zu den profiliertesten Künstlerinnen des französischen Films. Gestern wurde sie nun mit dem Bremer Filmpreis ausgezeichnet. Eine Auszeichnung, die sie erklärtermaßen besonders stolz macht, da es doch eine deutsche Produktion gewesen sei, mit der ihre Laufbahn begonnen habe.

Es ist eine Karriere, deren Charakter sich mit der Anekdote zu „Jenseits der Stille“ vielleicht am besten beschreiben lässt. Denn Schauspielen, sagt Testud, sei nun mal zuallererst das Vortäuschen von Fähigkeiten: „Wieviele großartige Chirurgen habe ich schon in Filmen gesehen! Aber glauben Sie bloß nicht, einer von diesen Darstellern wüsste tatsächlich, welche Verletzung er da gerade operiert!“ So habe sie für „Jenseits der Stille“ damals zwar die deutsche Sprache und das Klarinettespiel erlernt. Beides aber lediglich, soweit es unbedingt nötig war: „Ich konnte nicht mehr sprechen als die im Film gesagten Sätze. Und nicht mehr spielen als ein einziges Lied.“

Hätte sie Links Fragen damals mit „Ja“ beantwortet, hätte die Rolle womöglich ihren Reiz verloren. Denn einen Charakter zu interpretieren, sagt Testud, lohne sich für sie nur, wenn sie ihn nicht schon längst kenne: „Es muss sich um etwas handeln, was ich noch nie erlebt habe. Andererseits darf es aber auch keine Rolle sein, die jede Schauspielerin übernehmen könnte. Ich muss in ihr einen Raum finden, den ich mit meiner eigenen Persönlichkeit ausfüllen kann.“

In ihrer französischen Heimat wird sie für dieses Verständnis gerne als Rebellin bezeichnet. Den Grund dafür wüsste sie selbst gerne. „Ich hätte es geliebt, eine Rebellin zu sein“, sagt sie: „In Wahrheit aber mache ich doch nichts anderes, als Grenzen zu versetzen.“ Genre-Grenzen zum Beispiel. Längst ist Testud als Regisseurin in Erscheinung getreten, und neben dem Filmgeschäft hat sie auch schon Romane auf den Markt gebracht. Das Schreiben, sagt sie, sei ihr heute genauso wichtig wie das Regieführen und Schauspielen. Ob eine Geschichte auf Papier erscheint oder auf der Leinwand, sei vor allem eine Frage ihrer Struktur: Mal eigne sie sich besser zum Erzählen in filmischen Sequenzen, mal erfordere sie den großen literarischen Bogen.

Für das deutsche Publikum ist zurzeit lediglich die Filmkünstlerin Testud zu erleben. Zu einer Übersetzung ihrer Romane ins Deutsche, hofft die Geehrte, könnte der Bremer Filmpreis ja vielleicht einen ersten Impuls geben. Lohnenswert erscheint die Lektüre allemal, jedenfalls wenn man aus der Klarheit von Testuds filmischem Urteilsvermögen auf ihr literarisches Selbstverständnis schließen darf. Einen guten Film definiert sie mit einer „Welt, die in mir starke Gefühle erweckt und Dinge bewusst macht, die mir vorher nicht bewusst waren“. Und noch eine Bedingung: „Ich muss darin einem Menschen begegnen, der mir dieses Universum eröffnet.“

Mit viel beachteten Filmen wie natürlich „Jenseits der Stille“ aber auch „Pünktchen und Anton“, „Bonjour Sagan“ und „Lourdes“ hat sie so manches „Universum“ geöffnet. Bleibt da noch Platz für Zukunftsträume? Ach, sagt Sylvie Testud, immer wenn sie solche Träume verraten habe, hätten sich diese anschließend zerschlagen. So zuletzt bei ihrem öffentlich bekundeten Wunsch, mit Claude Miller zusammenzuarbeiten. Ehe der Regisseur dann im Frühjahr 2012 verstarb. Sie werde sich also hüten, sagt sie, über ihre Träume zu sprechen. Allerdings: „Wenn morgen Martin Scorsese anrufen würde…“

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