1. Startseite
  2. Kultur

Ein Wunder schreit nach Aufklärung

KommentareDrucken

Ausritt oder Bio-Unterricht? Der Tambourmajor (Michael Lucke) macht es sich auf dem Pferdeskelett bequem, Marie (Johanna Geißler) liegt ihm zu Füßen.
Ausritt oder Bio-Unterricht? Der Tambourmajor (Michael Lucke) macht es sich auf dem Pferdeskelett bequem, Marie (Johanna Geißler) liegt ihm zu Füßen. © -

Von Johannes BruggaierBREMEN (Eig. Ber.) n Was für ein Wortspiel. „Stich, stich, stich die Woyzecke tot“, befiehlt die innere Stimme dem eifersüchtigen Ehemann: „Immer zu! Immer zu!“ Doch dann: „Stich, stich die Zickwolfin tot.“ Die Zickwolfin?

Das ist sie, die treulose Marie: ein braves Zicklein. Einerseits. Andererseits: eine Wölfin, bissig, gefährlich, selbstlos nur gegenüber ihrem Jungen. So wie einst die römische Wölfin, die Romulus und Remus, die Gründer Roms, gesäugt haben soll. Dieser Mythos beruht zwar auf einem Übersetzungsfehler – bedeutet doch die lateinische Vokabel für Wolf, „Lupa“ auch „Hure“. Doch selbst das trifft ja auf Marie zu.

Es ist ein gutes Zeichen, wenn literarische Finessen wie diese in einer Inszenierung hör- und interpretierbar werden. Georg Büchners „Woyzeck“, ist eben auch nach unzähligen Deutschstunden und Germanistik-Vorlesungen noch lange nicht ausgedeutet. Das hat seine Ursache zum einen in der geheimnisumwitterten Editionsgeschichte. Schließlich hat der Autor statt eines abgeschlossenen Dramas lediglich ein Sammelsurium an Handschriften hinterlassen: Szenenfolge ungewiss. Zum anderen war Büchner alles andere als ein Freund plakativer Forderungen. Der Dichter, lautete sein Credo, solle die Welt zeigen, wie sie ist, nicht, wie sie sein soll. Aus diesem Grund halte er auch „viel auf Goethe oder Shakespeare“ aber „sehr wenig auf Schiller“. Am Theater Bremen hält Regisseur Robert Schuster zunächst mehr auf Schiller – auf dessen Qualitäten als Aufklärer, nicht als Moralist.

„Hilfe“, flüstert eine verschreckte Marie (Johanna Geißler) und schaut aus großen Rehaugen über die finstere, fast leere Bühne (Sascha Gross): „Hilfe!“ Da taumelt von links Woyzeck (Timo Lampka) heran. Wirrer Blick, wirres Haar, wirrer Gang. Mit erhobenem Messer stürmt er auf Marie zu, packt sie, durchschneidet ihre Kehle, stößt sie zu Boden, zertrümmert ihr das Nasenbein und setzt schließlich zum finalen Stich ins Herz an. Marie ist tot, Woyzeck der Mörder: Ist das Drama etwa schon zu Ende – kaum, dass es begonnen hat? Natürlich nicht. Denn was der dramatische Beginn zeigt, ist nichts weiter als eine Zeitungsmeldung: Frauenleiche gefunden, Hinweise auf eine Beziehungstat. Die Frage lautet nun: Wie konnte es dazu kommen?

Vielleicht durch einen verbreiteten Glauben an objektive Wahrheiten. Etwa an die Wahrheit, dass ein Tambourmajor (Michael Lucke) kraft Amtes ein besserer Mensch ist. „Ich bin stolz vor die andern Weiber“, gesteht Marie ihrem Lover angesichts dessen blendend weißer Uniform. Der wirft sich in die Brust, schreit: „Wenn ich am Sonntag erst den großen Federbusch hab‘ und die weißen Handschuh‘; Donnerwetter, Marie!“

Derweil sieht die ambitionierte Ärztin (Irene Kleinschmidt) schon ihrem akademischen Durchbruch entgegen. Weil Versuchskaninchen Woyzeck schon seit Wochen nur Hülsenfrüchte isst und dabei tapfer den Stuhlgang verweigert, zeigen sich an seinen Ohren erste Mutationserscheinungen. „Das sind Übergänge zum Esel!“, jubelt sie. Bei Büchner wendet sich die medizinische Koryphäe sogleich einer Katze zu, woraus sich die Gleichstellung von Mensch und Tier lesen lässt. Schuster hingegen dreht die Szene weiter, lässt seine Ärztin auf Woyzecks Kind los: „Wenn ich diese Katze zum Fenster hinaus werfe, wie wird diese Wesenheit sich zum Zentrum Gravitationis und dem eigenen Instinkt verhalten?“ Kinder, Väter, Katzen: Alles ist bloß eine Frage der Definition – jedenfalls aus Sicht des Wissenschaftlers.

Überhaupt geht es hier derart wissenschaftlich zu, dass man sich unwillkürlich an den Biologieunterricht erinnert fühlt. Da wird statt eines Pferdes dessen Gerippe auf die Bühne gefahren. Und dann das Kind: eine unheimliche Puppe in Fötus-Größe, bedient von einem Schattenmann (mit Maske komplett schwarz: Christian Sengewald). Augenlos und nackt sieht sie aus wie ein Präparat aus der anatomischen Sammlung.

Wenn all die Gelehrten ein Gerippe als Pferd bezeichnen und einen Säugling als Katze, dann darf auch ein einfacher Soldat seine Wahrheit selbst zusammenreimen. „Zickwolfin“ ruft die geheimnisvolle Stimme. Woraus Woyzeck schließt, dass Marie ihn erstens betrügt und zweitens getötet werden muss. So irrational sein Handeln von außen erscheinen mag: Der Erniedrigte und Gedemütigte leitet es als zwingende Folgerung aus eigenen Erfahrungen ab.

Robert Schusters Inszenierung offenbart einen aufklärerischen Anspruch, ohne damit die subversive Dimension des Stückes aufzugeben. Auf diese Weise gelingt dem Regisseur ein über weite Strecken sinnlich anregender und intellektuell fordernder Abend. Allerdings fällt die Wahl der Mittel mitunter allzu konventionell aus. Das gilt insbesondere für den zumeist illustrativen Einsatz akustischer Medien. Wenn psychedelische Orgelmotive in „Doors“-Manier erklingen, so mag das „Tatort“-Flair verbreiten: Der inhaltliche Bezug aber bleibt unscharf. Hauptdarsteller Timo Lampka bewegt sich in seinem Debüt als Ensemble-Mitglied gefährlich nahe am Klischee, treibt Woyzecks Wahn augenrollend und händeringend auf die Spitze. Zu überzeugen vermag hingegen Johanna Geißler. Ihre Marie ist zerrissen zwischen der Hoffnung auf ein besseres Leben und dem Bewusstsein um ihre tatsächliche Situation.

Am Ende sticht Woyzeck ein zweites Mal zu. Wieder geht es Marie erst an die Kehle, dann ans Nasenbein und schließlich in die Brust. Doch anders als noch zu Beginn berappelt sich das Opfer. Woyzeck würgt sie. Wieder erhebt sie sich. Er presst ein Tuch auf ihren Mund. Immer noch am Leben. Ein Wunder, das nach wissenschaftlicher Aufklärung schreit. Doch die Ärztin ist da längst gegangen.

Weitere Vorstellungen: morgen um 18 Uhr sowie am 24. und 25. September, jeweils um 20 Uhr am Theater Bremen, Schauspielhaus.

Auch interessant

Kommentare