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So ist der Alltag im ersten deutschen Demenzdorf

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Hameln -  In vielen Heimen kann das Personal kaum auf die speziellen Bedürfnisse von Alzheimerkranken eingehen. Im ersten deutschen Demenzdorf dürfen sich die Bewohner auf dem umzäunten Gelände frei bewegen.

Das erste Demenzdorf in Deutschland ähnelt eher einer Hotelanlage als einem Heim. „Tönebön am See“ liegt in einem Naturschutzgebiet am Stadtrand von Hameln. In der Lobby gibt es einen Mini-Supermarkt, einen Friseur und ein Café mit Blick in den Garten. Auf den Wegen gehen Bewohner spazieren, Bänke laden zum Verweilen ein. Die 81-jährige Gerda Müller will trotzdem ständig weg. „Ich muss doch meine Kinder versorgen“, sagt die Seniorin.

„Wenn Frau Müller anfängt zu weinen, versuchen wir, sie abzulenken“, sagt Hülya Aydin. Die Altenpflegerin weiß, dass die Seniorin tatsächlich fünf Kinder hat - allerdings im Alter zwischen 40 und 60. „Man darf Demenzkranken nicht sagen, das stimmt alles nicht, was Sie erzählen. Man muss mitspielen“, sagt Aydin.

Für die meisten Menschen ist es eine Horrorvorstellung, im Alter das Gedächtnis zu verlieren. Körperliche Gebrechen werden in Kauf genommen, wenn es wenigstens im Kopf noch funktioniert. Insofern ist ein Demenzdorf ein trauriger Ort. Viele Bewohner haben eine Ahnung davon, dass sich ihre Persönlichkeit auflöst. „Tönebön am See“ wurde im März 2014 mit dem Ziel eröffnet, auf die speziellen Bedürfnisse von Demenzkranken einzugehen. So lange wie möglich sollen sie ihren Alltag mitgestalten.

Gerda Müller hilft gerne beim Einkaufen im heimeigenen Laden und beim Vorbereiten des Mittagessens. Zum Konzept gehört, dass in jeder der vier Hausgemeinschaften täglich eingekauft und gekocht wird. „Viele Bewohner können sich zwar nicht mehr adäquat unterhalten, aber schälen zum Beispiel gerne Äpfel“, sagt Kerstin Stammel, die das Konzept mitentwickelt hat. Vorbild ist das viel größere Demenzdorf „De Hogeweyk“ in Holland.

Sechs Millionen Euro investierte die Julius Tönebön Stiftung in den Bau. Das gut 18 000 Quadratmeter große Grundstück ist umzäunt. Für die Angehörigen bedeutet der Zaun Sicherheit. „Im früheren Heim ist unsere Mutter immer weggelaufen. Wir hatten große Angst, weil sie an der Hauptstraße bei Rot über die Straße ging“, berichtet die Tochter von Gerda Müller. Dort sei es auch dauernd darum gegangen, die Mutter in eine höhere Pflegestufe zu verfrachten. Das bringt den Heimen mehr Geld ein.

„Wir haben ein System, in dem die Heime belohnt werden, wenn sie ihre Bewohner bettlägerig machen“, kritisiert der Nürnberger Altersforscher Wolf Dieter Oswald. „Stattdessen müsste man die Heime belohnen, wenn sie Demenzkranke aktivieren.“

1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind demenziell erkrankt, etwa zwei Drittel von ihnen haben Alzheimer. Prognosen zufolge könnte sich ihre Zahl bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Aktuell werden mehr als 65 Prozent von ihnen zu Hause betreut. Daneben gibt es Heime, zunehmend mit eigenen Demenzstationen, sowie Demenz-WGs, die von ambulanten Pflegediensten unterstützt werden. „Eine Wohngemeinschaft ist nicht per se besser als ein Heim. Entscheidend ist qualifiziertes und motiviertes Personal“, sagt der Sprecher der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, Hans-Jürgen Freter.

Kritiker des Demenzdorf-Konzepts befürchten unter anderem, dass Kranke hier in Ghettos abgeschoben werden. Die Anlage „Tönebön am See“ ist aber keine abgeschlossene Welt. Ehrenamtliche kommen zu Konzerten oder Tanztees. Rüstige Bewohner können in einer „Nordic Walking“-Gruppe des örtlichen Wandervereins mitmachen.

Beim Mittagessen sieht Gerda Müller vergnügt aus. Ein dampfender Teller Grünkohl steht vor ihr. Alle Bewohner sitzen an Einzeltischen, eine Frau singt „Brüderchen komm tanz mit mir“, der Nachhall vom Singkreis am Vormittag. Beim Essen beginnt die Sängerin vom Nebentisch zu fluchen: „Pfui Deibel!“ Gerda Müller beugt sich noch vorn und sagt leise: „Die mag ich nicht. Mein Mann holt mich gleich ab.“ Ihr Mann ist vor sieben Jahren gestorben.

dpa

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