Doch sollte man sich durchaus trauen, mal eine Tradition zu durchbrechen. Warum nicht den Heiligabend nur mit der eigenen kleinen Familie verbringen? Oder mit Freunden? Hat man einen solchen Wunsch, rät Fegg dazu, dies etwa mit den Eltern zu besprechen. Wer weiß: Vielleicht feiern auch die lieber in Ruhe zu zweit – und trauen sich nur nicht, es vorzuschlagen. An den Weihnachtsfeiertagen kann sich die Familie ja etwa zu einem Essen treffen. „Dabei können auch mal die Kinder die Eltern einladen“, schlägt Fegg vor. Auch solche Traditionen umzukehren, hilft oft, Stress zu vermeiden.
Für viele bleiben die freien Weihnachtstage aber ein Anlass, um ihre Familie zu besuchen. Auch Fegg selbst freut sich, seine Mutter und seine beiden Schwestern in Berchtesgaden zu treffen. Doch nicht immer bedeutet ein Fest mit der Familie harmonische Tage. Bei der Rückkehr in die alte Heimat lauern oft Konflikte: Der Vater fragt, ob es jetzt endlich mal mit einem festen Job klappt. Die Mutter will wissen, ob sie bald einen Enkel im Arm halten darf. Und die erwachsenen Kinder fühlen sich hilflos wie einst und reagieren abwehrend, als wären sie wieder 13. Allzu leicht fällt man in alte Muster.
Doch kann man auch das oft vermeiden. Etwa, indem man die Zeit allzu großer Nähe beschränkt. „Man kann den Tagen des Besuchs vorab eine feste Struktur geben“, sagt Fegg. Sei es, dass man sich nach dem Festessen mit alten Freunden verabredet oder lieber allein in die Christmette geht. Auch Freunde anzurufen, verschafft etwas Luft, oder im Hotel zu übernachten statt im ehemaligen Kinderzimmer. Ein gutes Buch oder die Lieblingsmusik können ebenfalls ein Rückzug sein.
Wichtig ist es außerdem, die persönlichen Stresszeichen herauszufinden. Bei jedem zeigt sich Anspannung anders: Der eine bekommt Kopfschmerzen, beim anderen grummelt eher der Magen. Dann ist eine Auszeit nötig. Und die sollte man sich unbedingt nehmen – ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.
Die Spitzenküche hat den Trend erkannt: Slow Food heißt eine Bewegung gegen das verbreitete in sich Hineinfuttern. An Weihnachten muss dieser Trend noch entdeckt werden. Heiligabend bei den Schwiegereltern im Norden, dann zu den eigenen Eltern zurück nach Bayern: Viele Menschen hetzen durch die Weihnachtstage.
Fegg rät dagegen zur Entschleunigung. „Wenn sie einen Christkindlmarkt besuchen: Gehen Sie doch einfach mal bewusst ganz langsam.“ So kann man die Eindrücke tief in sich aufnehmen, wie der Schnee auf den Dächern glitzert – ja selbst wenn es Regentropfen sind, die auf die letzten Herbstblätter fallen. Alles wird intensiver, kraftvoller, wenn man es mit bewusst erlebt. „Achtsamkeit hilft die positive Kraft des Moments zu nutzen“, sagt Fegg.
Plätzchen backen an Weihnachten: Martin Fegg erinnert sich, wie er selbst als Kind seiner Mutter dabei half. Und dass an manchen Abenden im Winter der Abendhimmel rot glühte. „Jetzt backen auch die Engel im Himmel Plätzchen“, sagte dann seine Mutter. „Was ich wann geschenkt bekommen habe, daran erinnere ich mich nicht mehr“, sagt Fegg. Es sind eben solche intensiven Momente zwischen Menschen, die zählen.
Das erfährt der Psychologe auch in seiner Arbeit auf der Palliativstation im Uniklinikum Großhadern. Eine Aufgabe, die sehr erfüllend sein kann. Denn von den Menschen, die bald sterben, kann man viel lernen: Etwa, wie man wirklich lebt. Wenn die Zeit kurz wird, zeigt sich, was wirklich zählt: intensive Gespräche, Nähe zu Menschen. „Es gibt nichts Wichtigeres, nichts Schöneres“, sagt Fegg. Und das nicht nur, wenn das Leben abläuft. Schließlich ist die Zeit jedes Menschen begrenzt. Mit ihr sollte man daher achtsam umgehen. Statt von einer Feier zur nächsten zu hetzen, empfiehlt Fegg, sich lieber Zeit zu nehmen, für Freunde, für die Familie, um so echter Nähe eine Chance zu geben – und das am besten nicht nur an Weihnachten.
Von Sonja Gibis
Der Münchner Psychotherapeut Martin Fegg ist Leiter der Gemeinschaftspraxis PD Dr. Fegg & Kollegen am Marienplatz. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter ist er zudem auf der Palliativsstation des Münchner Uniklinikums in Großhadern tätig.