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"Und dann ab in die Penntüte"

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Obdachlose kämpfen mit Wetter
Der frühere Obdachlose Carsten H. "macht Platte"  in Osnabrück. Den Obdachlosen macht die derzeitige winterlich kalte Wetterlage zu schaffen, da sie draußen übernachten. © dpa

Osnabrück - Von Elmar Stephan. Auch wenn Schnee liegt, übernachten viele Obdachlose weiter auf der Straße. Carsten (41) aus Osnabrück hat das hinter sich. Ein alter Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg war jahrelang sein Zuhause. Wie geht es ihm heute?

Carsten breitet die Isomatte aus, dann den Schlafsack. Es ist kalt, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, und es liegt Schnee. Aber die Stelle, die sich der 41-Jährige ausgesucht hat, ist ideal für ein Nachtlager unter freiem Himmel: Es ist eine kleine Terrasse vor der alten Leichenhalle auf dem Hasefriedhof in Osnabrück. Der Flecken ist windgeschützt, auf drei Seiten von Mauern umgeben, und überdacht. Normalbürger meiden Friedhöfe nachts, also ist der Platz auch relativ sicher. "So, und jetzt ab in die Penntüte", sagt Carsten, der seinen Nachnamen nicht genannt wissen will.

Was er hier demonstriert, liegt hinter ihm. Fünf Jahre hat er "Platte gemacht", das heißt, auf der Straße gelebt. Seit drei Jahren ist er wieder runter von der Straße, seit anderthalb Jahren hat er wieder eine eigene Wohnung in Osnabrück. "Ohne Mithilfe der Suchtberatung der Diakonie hätte ich sie nicht bekommen", sagt er.

In seinem früheren Leben war Carsten Berufskraftfahrer und kam in ganz Europa herum. Er kommt aus dem westfälischen Rheine, etwa 50 Kilometer von Osnabrück entfernt. Als er 30 war, starb sein Vater, kurz drauf wurde seine Mutter blind. Carsten kümmerte sich um sie, bis sie einen Schlaganfall erlitt und ebenfalls starb. Seinen Beruf konnte er nicht mehr ausüben - beide Hüften sind kaputt, gegen die Schmerzen bekam er Morphium. "Mit diesen Schmerzmitteln sollte man besser keinen 40-Tonner fahren", sagt er und lächelt. Außerdem ist er spielsüchtig.

Obdachlose kämpfen mit Wetter
Obdachlose kämpfen mit dem Wetter © dpa

Als seine Mutter tot war, saß er alleine in der großen Wohnung und konnte sie nicht mehr bezahlen. "Ich habe sieben Geschwister, die sind alle älter als ich. Als meine Mutter starb, haben sie mich für ihren Tod verantwortlich gemacht", erzählt er. Er wolle keinen Kontakt mehr zu ihnen haben.

Die erste Zeit kam er bei Freunden unter, aber das ging irgendwann nicht mehr. In einem Waldstück bei Rheine kannte Carsten einen alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Der wurde sein Zuhause für fünf Jahre. Er lebte von Kräutern und Pflanzen aus dem Wald, jagte Kaninchen und Wasserratten. Gegen die Hüftschmerzen suchte er bestimmte Pilze, fürs Zähneputzen nahm er Birkenzweige und eine Creme aus Asche. "Das geht alles", sagt Carsten. Er habe viel gelesen - die Schriften der mittelalterlichen Mystikerin Hildegard von Bingen hätten ihm geholfen: "Sie war ja auch eine Außenseiterin."

Als er einmal in Rheine nicht in seinem Bunker übernachtete, sondern in der Stadt Platte machte, sei er nachts von einer Bande Jugendlicher zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Da wusste er, er wollte weg - eigentlich in den Osten: "Da gibt es noch billige Wohnungen." Er ging zu Fuß. Zwei Tage brauchte er bis Osnabrück. Dort machte er Station im Laurentiushaus, einer Anlaufstelle für Obdachlose, die vom Sozialdienst katholischer Männer betrieben wird. Eine Sozialarbeiterin habe ihn gefragt, ob er nicht von der Straße runter wolle. "Einen Tag habe ich drüber nachgedacht", erzählt er. Dann stand sein Entschluss fest, es zu versuchen. Heute arbeitet er im Laurentiushaus, dem "Lauri", als Ein-Euro-Jobber.

Hat Carsten Pech gehabt? Hätte er gar nicht obdachlos werden müssen, wenn er disziplinierter gewesen wäre? Ist er also selber an seinem Schicksal schuld? "Man darf das nicht individuell sehen, sondern als Armutsphänomen", sagt Frank Kruse. Er ist Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe in Freistatt, einer großen Sozialeinrichtung im Kreis Diepholz, die von den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel betrieben wird. Arbeitslosigkeit könne ganz schnell zu Wohnungslosigkeit führen. "Es gibt in Deutschland hunderttausende Wohnungen zu wenig."

Obdachlose kämpfen mit Wetter
Den Obdachlosen macht die derzeitige winterlich kalte Wetterlage zu schaffen, da sie draußen übernachten. © dpa

Wohnungslosigkeit sei die extremste Form von Armut, und das Armutsrisiko sei in den vergangenen Jahren gestiegen, sagt auch Mark Brockmann von der Zentralen Beratungsstelle Niedersachsen für Wohnungslose von Caritas und Diakonie. Die Sozialämter hätten keinen direkten Zugriff mehr auf Wohnraum, es gebe kaum noch Sozialwohnungen.

Ganz besonders betroffen sind nach Einschätzung von Kruse und Brockmann junge Menschen bis 25 Jahre, die aus problematischen Familien kommen und auf Sozialleistungen angewiesen sind. Der Gesetzgeber erwartet, dass sie bei ihren Eltern wohnen. Ziehen sie aus, halten sie sich nicht an die Auflagen des Jobcenters, wird ihre Unterstützung um 100 Prozent gekürzt. Eine Zeit lang kommen sie noch bei Freunden unter - und landen dann nach ein paar Jahren komplett auf der Straße. Eine Chance, aus dem Kreislauf rauszukommen, haben sie nach Auffassung von Kruse und Brockmann von Anfang an nicht.

Wie viele Menschen in Niedersachsen Platte machen, weiß keiner. Das wird statistisch nicht festgehalten. In den Betreuungseinrichtungen sind landesweit rund 6000 Menschen erfasst. "Das sind die, die versuchen, nicht mehr Platte zu machen", sagt Brockmann. Am 31. Oktober wurden in Westniedersachsen, also den Bereichen der Beratungsstellen Oldenburg und Osnabrück, die Kontakte in den Tageseinrichtungen und ambulanten Hilfseinrichtungen gezählt worden: Es waren 1033 Menschen. Wie hoch die Zahl im restlichen Niedersachsen ist, in den Ballungsräumen um Hannover und Braunschweig, weiß keiner.

Die Zahl der Obdachlosen dürfte steigen. Die Beratungsstellen registrieren erste Anfragen von Osteuropäern, die als Leih- oder Werkarbeiter nach Niedersachsen gekommen sind, ihren Job verloren haben und jetzt auf der Straße stehen. Auch so manchem Flüchtling drohe die Wohnungslosigkeit, fürchten Kruse und Brockmann.

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