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In der Osterbäckerei

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Die einstige Getreidehandlung Abraham an der Langen Straße in Nienburg.
Die einstige Getreidehandlung Abraham an der Langen Straße in Nienburg. © -

Nienburg - Von Heinz-Dieter Hische. In die Osterzeit passt eine Geschichte aus dem Jahre 1856. Damals schrieb der Uhrmacher „Abraham“ an den „Hochlöblichen Magistrat der Stadt Nienburg.

Seit längerem betreibe er das Backen von Osterkuchen zum Verkauf an Juden. Bisher habe er sich dazu des Backofens vom Bäckermeister „Garbrecht“ bedient, doch hätten sich dort zu oft Behinderungen ergeben, was freilich sehr verständlich ist, wenn man den Umfang des Backbetriebes zur Kenntnis nimmt.

„Es ernährt dieses Geschäft, dessen Betrieb fast die ganze Zeit von Weihnachten bis Ostern ausfüllt, während solcher Zeit täglich etwa 15 Arbeitsleute, und es ist für meinen und meiner Familie Unterhalt von der größten Wichtigkeit, ja ganz unentbehrlich“, merkt Abraham an, deshalb wolle er einen eigenen Backofen anlegen. Er folgte ein Bauantrag für den Backofen „in demjenigen alsdann noch zu vergrößernden Garten hinter meinem Wohnhaus gelegenen Gebäude“. Die Möglichkeit eines Widerspruchs der Bäckergilde schloss Abraham aus, da es ihm „nicht einfalle“, andere Backwaren als den jüdischen Osterkuchen herzustellen und zu verkaufen.

Das ist das Gebäude heute.
Das ist das Gebäude heute. © Nikias Schmidetzki

Der Uhrmacher L. l. Abraham war Eigentümer des Hauses Lange Straße 60. Im Volksmund hatte dieses Haus die seltsame Bezeichnung „Murtchen“, was jedoch nichts mit der Familie Abraham zu tun hatte. Es war eine Erinnerung an die „Franzosenzeit“. lm Jahre 1803 nahm in diesem Gebäude der französische Marschall Mortier Quartier. Aus dessen Namen hatten die Nienburger „Murtchen“ gemacht und ihn auf das Gebäude übertragen. Der Magistrat gab Abrahams Gesuch statt. Der Betreibung der Bäckerei stehe bei dem Vorhandensein der allgemeinen Erfordernisse nichts entgegen. Bei der Anlage des Backofens habe sich „der Bittsteller“ den bau-und feuerpolizeilichen Vorschriften zu unterwerfen, und ein Bauplan sei noch vorzulegen.

Die Bäckerei hat etwa bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges bestanden, von David Löwenbach, einem Verwandten der Abrahams, als „Nienburger Osterbrot-Fabrik“ weitergeführt. Älteren Nienburger Bürgern ist diese „Mazzenbäckerei“ – denn darum handelte es sich – durchaus noch ein Begriff. Manche erinnern sich, dass sie als Kinder dort Kunden waren und „für” nen Groschen“ eine Tüte voll „Mazzenbruch“ bekamen.

Nur wenige wissen noch um die Bedeutung des hier einst hergestellten Gebäcks. Als Mazzen (oder Matzen) bezeichnete man Brot?aden aus Weizenmehl und Wasser, welche ohne Zusatz von Sauerteig hergestellt werden. Ihr Verzehr ist den Juden zur Zeit des Passah vorgeschrieben.

Passah (hebräisch Pesach = schonender Vorübergang), eines der Hauptfeste des Judentums, hält die Erinnerung wach an den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten (Exodus), wie er im 2. Buch Moses beschrieben wurde. Die Bibel berichtet, dass der Aufbruch in großer Eile vor sich ging: „Und das Volk trug den rohen Teig, ehe denn er versäuert war, zu ihrer Speise, gebunden in ihren Kleidern, auf ihren Achseln... und sie buken aus dem rohen Teig, den sie aus Ägypten brachten, ungesäuerte Kuchen; denn es war nicht gesäuert, weil sie aus Ägypten gestoßen wurden und nicht verzeihen konnten und sich sonst keine Zehrung zubereitet hatten.“

Und so sollte es alljährlich in der Woche des Passah gehalten werden „Sieben Tage sollst du ungesäuert Brot essen, und am siebenten Tage ist des Herrn Fest. Ihr sollt euren Söhnen sagen an demselben Tage: Solches halten wir um des willen, was uns der Herr getan hat, da wir aus Ägypten zogen.“ Durch Moses hatte Gott dem Volk Israel verkündet: „Das Fest der ungesäuerten Brote sollst du halten, dass du sieben Tage ungesäuertes Brot essest, wie ich dir geboten habe, um die Zeit des Monats Abib; denn in demselben bist du aus Ägypten gezogen.“ Der Monat Abib (später Nisan genannt) beginnt nach dem Gregorianischen Kalender Ende März und entspricht im übrigen etwa der letzten Märzwoche und den ersten drei Aprilwochen. Passah beginnt am 14. und endet am 21. Nisan.

Ostern, das älteste Fest der christlichen Kirche, steht historisch mit dem jüdischen Passahfest im Zusammenhang. Das christliche Abendmahl geht auf das Passahmahl zurück. In den christlichen Kirchen des Altertums gab es eine heftige Auseinandersetzung um die Festlegung des Zeitpunkts. Das Konzil von Nizäa bestimmte dann den ersten Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond zum Auferstehungsfest. Damit wurde die Trennung vom jüdischen Festkalender vollzogen.

Die Bezeichnung „Ostern“ für ein Frühlingsfest ist vorchristlich, die Herkunft nach einer germanischen Göttin „Ostara“ (Jacob Grimm) wird jedoch heute von der Wissenschaft angezweifelt. Die Deutung geht dahin, Ostern mit Osten, der Richtung der aufgehenden Sonne (althochdeutsch „ostar“) gleichzusetzen. Deutschland und England behielten die alte Bezeichnung (Ostern / Easter) bei, während sich im übrigen Europa, insbesondere im romanischen Sprachraum, die biblisch-jüdische Bezeichnung durchsetzte (zum Beispiel französisch „Paques“, italienisch „la Pasqua“).

In Deutschland bürgerte sich auch durchaus der Begriff „jüdische Ostern“ für Passah ein und für Mazzen „Osterkuchen“ oder „Osterbrot“, wie aus der Nienburger Überlieferung ersichtlich ist. Die Familie Abraham gründete im Jahre 1860 – um diese Zeit starb Levi Isaac Abraham – unter der Firmenbezeichnung „L. I. Abraham Ww.“ eine Mehl- und Getreidegroßhandlung. Das Hauptgeschäft wurde später in das schräg gegenüberliegende Grundstück Lange Straße 61 verlegt.

Im Anzeigenteil des Nienburger Adressbuchs von 1912 warb Abrahams mit diesem Inserat.
Im Anzeigenteil des Nienburger Adressbuchs von 1912 warb Abrahams mit diesem Inserat. © -

Nach 75 Jahren des Bestehens kam dann der Geschäftsbetrieb dieser Firma im Zuge der fortschreitenden nationalsozialistischen Judengesetzgebung zum Erliegen. Mit tiefer Erschütterung verfolgte man beim Studium der im Nienburger Stadtarchiv bewahrten Akten, wie aus angesehenen Bürgern dieser Stadt in wenigen Jahren recht- und wehrlose, gehetzte Menschen wurden. Dem letzten Inhaber der Firma, Gustav Dessauer und seiner Frau Anna, geb. Löwenbach, gelang noch 1938 die Ausreise nach Johannisburg/ Südafrika. Eine originelle und humorvolle Darstellung der Mazzenbäckerei, wie sie in niedersächsischen Dörfern um die Mitte des vorigen Jahrhunderts getätigt wurde, liefert uns Georg Steinberg in seinem in plattdeutscher Sprache verfassten Büchlein „Nahharkels“ (Nachgeharktes). Hier hat der Verfasser Jugenderinnerungen aus seinem Heimatdorf Mackensen am Solling wiedergegeben. Steinberg hatte sich um 1865 als Kaufmann in Nienburg niedergelassen. Zunächst lediglich gerngesehener „Gelegenheitsdichter“, erlangte er mit den 1899 veröffentlichten „Nahharkels“ sowie dem bereits 1897 erschienenen Erinnerungsbuch „Wir lust’gen Hannoveraner! Kriegs und Friedenserlebnisse eines hannoverschen Jägers“ literarischen Rang.

Der erzählerische Teil von „Nahharkels“, mit dem Titel „Vör föwtig Jahr up’n Dörpe“, dem die kleine Episode „Schorse, giw us Mazzen“ entnommen ist, gibt wichtige Aufschlüsse über das Zusammenleben von Christen und Juden (Steinberg war Jude) und ist insbesondere durch seine lebensvolle Darstellung des Dorflebens im 19. Jahrhundert sozialgeschichtlich von hohem Wert.

Auch in kommenden Ausgaben sollen im BlickPunkt zum Sonntag wieder historische Stadtbilder zu sehen sein, verbunden natürlich mit der aktuellen Ansicht. Eine Aktion, die selbstverständlich für alle BlickPunkt-Leser geöffnet ist. Sie haben auch eines dieser schönen historischen Fotos? Und wissen möglicherweise eine nette Begebenheit zu dem jeweiligen Motiv zu berichten? Dann am besten mit der BlickPunkt-Redaktion unter Tel. 05021/960831 in Verbindung setzen oder gleich vorbeischauen beim BlickPunkt an der Langen Straße 3. Es wäre doch zu schade, wenn die vielen Eindrücke der Zeitzeugen aus der jüngeren Nienburger Vergangenheit verloren gingen.

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