1. Startseite
  2. Lokales
  3. Landkreis Nienburg

Kein „idyllisches Landleben“

KommentareDrucken

Albert Herrenknecht hatte provokante Thesen im Gepäck.
Albert Herrenknecht hatte provokante Thesen im Gepäck. © -

Nienburg - HOYA (gru) · Den Mythos vom idyllischen Landleben der heutigen Jugendlichen entzauberte Albert Herrenknecht vom Entwicklungsbüro „Pro Provincia“ aus Baden-Württemberg ganz schnell: Mit seinem Vortrag „Wir sind dann mal weg! – Ländliche Jugend zwischen Sozialraumschwund und Regionalisierungssog“ erreichte der Sozialwissenschaftler gut 25 Zuhörer im „Lindenhof“ in Hoya.

Moderiert von Rudi Klemm, Leiter des Projektes „Kompetenz schafft Chancen“ beim Kreisjugendring Nienburg, diskutierten mit den Gästen anschließend sechs Fachleute: Mike Fuchs, die Jugendpflegerin in Hoya, Renate Hasslinger als Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses des Landkreises, Klaus Borck als Kreisjugendpfleger, Tobias Göckeritz vom Landvolk Mittelweser, Dietrich Pagels von der Regionalentwicklung des Landkreises und Jörg Meier als Vorsitzender des Kreisjugendrings, der zu der Veranstaltung eingeladen hatte.

Herrenknecht, der seit 35 Jahren im Jugendbereich arbeitet, hatte provokante Thesen im Gepäck, etwa: „Das Dorf findet im Kinderalltag immer weniger statt“. Kinder hätten ihre Spielplätze nur noch im mit Zäunen gesicherten Vorgarten und würden sich nicht mehr im Sozialraum Dorf beziehungsweise auf der Straße aufhalten. Raumbewegungen fänden nur noch im Auto statt, wenn Mütter – von Herrenknecht als „Super-Kontrollfreaks“ bezeichnet – die Kinder zu verabredeten Treffen mit den Kindern befreundeter Mütter oder zu Sport und Musikunterricht kutschierten. Nachbarskinder fehlten häufig; unorganisiertes Spielen ohne Aufsicht fände kaum mehr statt.

„Die Kinder haben Erlebnismangel“, so Herrenknecht, ein Gefühl von Freiheit überkomme sie nur noch, wenn sie die Tür des Kinderzimmers hinter sich schlössen. Dabei seien diese, genau wie in der Stadt, gut ausgestattete Mediotheken. Die Jugendlichen seien der Natur entfremdet: „Nur noch 31 Prozent von ihnen haben jemals einen Bach gestaut“.

„Wer keine Wurzeln im Dorf hat, wird Räder bekommen“, prophezeite Herrenknecht. Angesichts der demografischen Entwicklung müssten Jugendliche für ihren Heimat ort interessiert werden, „sonst sind sie für das Dorf verloren“.

Pagels bestätigte das mit Zahlen: „Im Jahr 2025 werden wir 30 Prozent weniger Kinder und Jugendliche im Landkreis Nienburg haben.“ Borck wollte gerne die Lebensqualität für alle Generationen verbessern, denn auch die Senioren würden in Zukunft vermehrt zum „Betreuten Wohnen“ in die Städte abwandern.

Da Arbeitsplätze sowieso rar seien auf dem Land und der mangelhafte ÖPNV selten die Möglichkeit für Erlebnisse wie „Shopping“ böte, müsste der Jugendarbeit ein neuer Stellenwert eingeräumt werden. „Noch haben wir ein gewisses Zeitfenster“, so Herrenknecht. Vor allem aber bräuchten die Jugendlichen einen „Anwalt“ im Dorf, der ihre Interessen vertrete.

„Wir müssen hier Arbeitsplätze haben, sonst brauchen wir uns um die Jugendlichen keinen Kopf mehr zu machen“, wandte Göckeritz ein.

„Jugendarbeit ist soziale Infrastruktursicherung“, sagte Herrenknecht. Das hätten noch längst nicht alle Dörfer begriffen, die die Jugendarbeit häufig allein den Vereinen überließen.

Jugendliche mehr zu beteiligen, dafür setzten sich Mike Fuchs und Renate Hasslinger ein. Meier findet es wichtig, „einen Raum für Jugendliche zu schaffen – ohne ständige Beobachtung“. Dann würden die Jugendlichen auch nicht nur an der Bushaltestelle rumsitzen, auf dem Spielplatz „rumlungern“ oder sich zu Hause vor dem Internet einigeln. „Und das sind viele – die müssen wir erreichen“, plädierte er.

Auch interessant

Kommentare