Obwohl die Familie durchaus noch das Geld für eine Hotelübernachtung hatte, wurde ihnen diese vom Hotelinhaber verweigert. Schließlich zahlten sie 200 Euro nur dafür, sich duschen zu dürfen. Um wie Touristen auszusehen trennten sie sich von sämtlichem Gepäck und kauften sich ein Zugticket. An der serbischen Grenze erlebten sie, wie Grenzbeamte syrische Flüchtlinge aus dem Zug sortierten. Sie selbst wurden aufgrund ihrer Tarnung nicht kontrolliert und gelangten so nach Belgrad.
Von Serbien aus ging es dann ohne Schleuser weiter zu Fuß über die Grenze nach Ungarn. Dabei verloren sie die Orientierung und irrten tagelang durch die Wälder. Sie waren völlig verzweifelt. Sabri beschreibt, sie fühlten sich nicht mehr wie Menschen, sondern wie Tiere. Irgendwann lief er aus dem Wald und schrie selbst nach der Polizei als er einen Streifenwagen sah. Ihm war zu diesem Zeitpunkt alles egal – die Kinder brauchten dringend Wasser. Was dann passierte, beschreibt er als das Unmenschlichste, was er je erlebt hat. Die ungarischen Polizeibeamten gaben auch den Kindern keinen Schluck Wasser. Sie brachten die Familie in ein Gefängnis und warfen alle fünf in eine Zelle, in der schon etwa 100 Flüchtlinge aus aller Welt übereinander lagen. Es gab dort weder Nahrung noch Sanitäranlagen. Die Kinder tranken das Wasser aus der tropfenden Spülung der einzigen Toilette, die von 100 Menschen benutzt wurde. Sabri beschwerte sich bei dem Verantwortlichen, was das für ein Land sei, das selbst kleine Kinder in so eine Zelle sperre. Der drohte ihm daraufhin an, die Kinder in ein Heim zu bringen und ihn lebenslang im Gefängnis zu lassen. Drei Tage und Nächte lagen sie in dieser Zelle. Dann wurden sie in ein Camp nach Budapest gebracht. Als er dort wieder äußerte, er wolle doch auf keine Fall in Ungarn bleiben, riet man ihm: „Sei ruhig – Du bist hier in Ungarn und nicht in irgend so einem demokratischen Rechtsstaat.“
Im Camp trat dann schließlich ein türkischer Schleuser auf ihn zu und fragte ihn, ob er nach Deutschland wolle. Der Preis sei 800 Euro pro Person. Da Sabri so viel nicht mehr dabei hatte, einigten sie sich auf 2 500 Euro. Und so gelangten sie mit einem Großraumtaxi nach Deutschland. Man setzte sie in irgendeinem Dorf ab und mit seinen letzten 150 Euro kaufte Sabri ein Zugticket nach München, wo er einen Mitflüchtling aus dem Schlauchboot wiedertraf. Der lieh ihm dann das Geld für die Zugfahrt zu Sabris Bruder nach Wuppertal.
In Wuppertal meldete er sich bei den Behörden und gelangte über Dortmund, Duisburg schließlich nach Bramsche in Niedersachsen. Es sei dort zwar voll, aber keineswegs chaotisch gewesen. Sie seien gut untergebracht worden und hätten gleich erste Deutschkurse besuchen können. Die Frage Keuls, ob er denn dort auch schon angehört worden sei, verneint Sabri. Bislang habe er nicht einmal einen förmlichen Antrag stellen können. Es sei auch das erste Mal, dass ihn jemand nach seiner Geschichte frage.
Er und seine Familie seien in Nienburg sehr gut aufgenommen worden. Die Wohnung ist sehr schön und die Nachbarn sehr hilfsbereit. Letztere hätten den Kindern schon das Fahrradfahren beigebracht. Er bedankt sich ausdrücklich bei Iraki, der die Familie abgeholt hat und sich seitdem um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmert. Als nächstes wird Iraki die Kinder in der Grundschule anmelden. Auf die Schule freuen sich alle schon sehr. Während die Erwachsenen noch erfüllt sind von dem Schmerz, um die verlorenen Heimat und die Sorge um die Verwandten hört sich das fröhliche „Tschüss“ von den Kindern schon sehr norddeutsch an.