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Über die Westbalkanroute nach Nienburg

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den Erlebnissen einer Flüchtlingsfamilie machten sich Karim Iraki (l.) und Katja Keul. Sie waren zu Gast bei Familie Safo.
den Erlebnissen einer Flüchtlingsfamilie machten sich Karim Iraki (l.) und Katja Keul. Sie waren zu Gast bei Familie Safo. © Büro Katja Keul

Nienburg. Die syrische Flüchtlingsfamilie Safo ist nach jahrelanger Flucht im Juli in Nienburg eingetroffen. Kürzlich bekam sie Besuch von der heimischen Bundestagsabgeordneten Katja Keul, in Begleitung des Stadtratmitglieds Karim Iraki.

Die beiden Grünen-Politiker hießen die Flüchtlinge willkommen und baten sie ihre Geschichte zu erzählen, damit ihre neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger von ihrem Schicksal erfahren. Und so berichtet der Vater, Sabri Safo (38), wie er mit seiner Frau Narvoz (36), seinen beiden Kindern Mohammed (9), Berfin (6) und seinem Neffen Mohammad (8) gezwungen wurde, seine Heimat zu verlassen.

2011 lebte die Familie in Aleppo. Sie zählen sich selbst zur syrischen Mittelschicht. Sabri hatte ein kleines Computergeschäft und Narvoz ist Grundschullehrerin. Er ist muslimischer Kurde, sie ist yesidische Kurdin. Als die Freitagsdemonstrationen 2011 beginnen ist er mit dabei und sieht wie die Gewalt von Woche zu Woche eskaliert. Mit jedem toten Demonstranten werden auch die Trauerzüge immer größer. Zeitgleich tauchen immer mehr bewaffnete Islamisten auf, die sich mit dem staatlichen Regime bekriegen. Im Stadtteil, wo die Familie wohnt, leben etwa 500 000 Menschen – überwiegend kurdische Syrer. Anfang 2012 beginnen die Bombardierungen aus der Luft.

Für die Familie beginnt ein Leben in der Hölle. Der Weg von seinem Geschäft zum Wohnhaus betrage gerade einen Kilometer. Wenn er bei Luftangriffen nach Hause rannte, fand er seine Kinder, die sich in der Toilette versteckten vor Angst. Als er eines Tages zu seiner Familie rannte, um diese aus dem Haus in Sicherheit zu bringen musste er auf dem einen Kilometer über 13 Leichen laufen und anschließend den gleichen Weg mit seinen Kindern zurücklegen. Etwa ein Jahr lang hat die Familie die Luftangriffe in Aleppo ausgehalten. In Ihrem Wohnhaus waren sie am Ende die letzten, die noch übrig waren. Dann flüchteten sie sich 2013 in das Dorf seiner Eltern nahe der türkischen Grenze. Auch dort gab es Kämpfe und Schießereien, vor denen sie sich dann immer auf die türkische Seite der Grenze in Sicherheit brachten.

Aber auch auf der türkischen Seite gab es Menschen, die den Kurden feindlich gesinnt waren. Als das Leben zwischen diesen Fronten nach etwa sechs Monaten ebenfalls zu gefährlich wurde, entschloss sich die Familie Syrien endgültig zu verlassen und flüchtete in die türkische Stadt Izmir. Dort konnten die Kinder zwar wieder zu Schule gehen wurden aber wegen ihrer Herkunft und ihrer ethnischen Zugehörigkeit drangsaliert. Schließlich bot ihnen ein Schleuser für 15 000 Euro die Reise in die EU an. Sabri betont, dass er dieses Angebot nur wegen seiner Kinder angenommen habe. Er selbst wäre lieber nahe der Heimat geblieben, aber seine Kinder sollten doch eine Perspektive bekommen.

Bevor sie im Mai Izmir verließen bat ihn seine Schwägerin, das älteste ihrer drei kleinen Kinder mitzunehmen. Ihr Mann, der Bruder von Sabri, ist nach Kämpfen vermisst und wahrscheinlich ums Leben gekommen. Was auch immer geschehe, so sollen wenigsten einer aus ihrer Familie durchkommen. Sabri übernahm die Verantwortung für seinen achtjährigen Neffen, der nun sehnsüchtig auf einen Internet-Anschluss wartet, um endlich per Skype Kontakt zu seiner Mutter halten zu können. Bevor die nunmehr fünfköpfige Familie im Mai mit 40 anderen Personen das Schlauchboot der Schleuser bestieg, kaufte Sabri noch drei Schwimmwesten für die Kinder und zahlte einen Aufschlag für sieben Personen statt für fünf, um den Kindern etwas mehr Platz in dem engen Boot zu verschaffen. Trotzdem hatte der Vater große Zweifel, ob sie dieses Schlauchboot jemals lebend wieder verlassen würden. Nach dreieinhalb Stunden war das Benzin alle und sie dümpelten auf dem Meer in Sichtweise der Insel Kos. Einige junge Männer verließen das Boot und schwammen nach Kos. Der Rest schaffte es schließlich paddelnd und kletterte mit den Kindern durch die Felsen.

Auf Kos war die Situation im Mai noch nicht so schlimm, wie im Juli oder August. Sabri berichtet, sie seien gut behandelt worden. Man habe sie gefragt, ob sie in Griechenland einen Asylantrag stellen wollten. Als sie verneinten gab man ihnen eine Art „ Abschiebebescheinigung“ und schon nach einem Tag konnten sie ein Schiff nach Athen nehmen und von dort nach Thessaloniki fahren. Da es Taxifahrer in Griechenland verboten war, Flüchtlinge mitzunehmen hätten sie von dort die letzten 50 Kilometer bis zur mazedonischen Grenze zu Fuß gehen müssen. In Griechenland hätten sie sich kleine Zelte gekauft und den Kindern hatten sie versucht die Atmosphäre eines Pfadfinderurlaubs vorzuspiegeln.

Auch in Mazedonien durften sie im Mai noch keinen Zug benutzen und so liefen sie fünf Tage und Nächte durch das Land in Richtung serbische Grenze. Von ihrem Schleuser haben sie sich irgendwann getrennt, weil es Sabri zu gefährlich war immer auf den Schienen zu laufen. Einmal hätten sie gerade noch rechtzeitig vor einem Zug von den Schienen springen können. Das Schleusernetzwerk übergibt die Flüchtenden immer von Mann zu Mann an den verschiedenen Etappen. Ab Griechenland seien alle Schleuser Afghanen gewesen. Wer ohne Schleuser unterwegs sei, riskiere von diesen abgestochen zu werden. Er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Schleuser fünf Männern aus Syrien, die ohne Schleuser gekommen waren, mit Messern in den Bauch gestochen haben.

Diese Schilderung mache mehr als deutlich, mit welchen mafiosen Strukturen man es zu tun habe, findet Keul: „Die mangelnden legale Einreisemöglichkeiten auch für diejenigen, die bei uns zweifelsfrei ein Bleiberecht haben, sei eine millionenschwere Förderung und Subventionierung dieser Schleuserbanden. Wer den Menschenhändlern das Handwerk legen will muss als erstes diese katastrophale Gesetzeslage ändern und ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen, sowohl für Flüchtlinge als auch für Arbeitsmigranten legale Möglichkeiten schafft nach Deutschland einzureisen“.

Als Familie Safo endlich mit letzten Kräften an der serbischen Grenze ankam seien sie von mazedonischen Grenzbeamten verhaftet und wieder an die griechische Grenze zurück gebracht worden. Sabri begann die Hoffnung zu verlieren. Die Beamten seien aber menschlich mit Ihnen umgegangen. Sie hätte sie nicht, wie eigentlich vorgeschrieben, auf die griechische Seite der Grenze gebracht, sondern auf mazedonischer Seite abgesetzt. Sie haben der Familie gesagt, sie solle es doch am nächsten Tag nochmal mit dem Zug probieren und sie sollten dabei mehr wie Touristen als wie Flüchtlinge aussehen.

Obwohl die Familie durchaus noch das Geld für eine Hotelübernachtung hatte, wurde ihnen diese vom Hotelinhaber verweigert. Schließlich zahlten sie 200 Euro nur dafür, sich duschen zu dürfen. Um wie Touristen auszusehen trennten sie sich von sämtlichem Gepäck und kauften sich ein Zugticket. An der serbischen Grenze erlebten sie, wie Grenzbeamte syrische Flüchtlinge aus dem Zug sortierten. Sie selbst wurden aufgrund ihrer Tarnung nicht kontrolliert und gelangten so nach Belgrad.

Von Serbien aus ging es dann ohne Schleuser weiter zu Fuß über die Grenze nach Ungarn. Dabei verloren sie die Orientierung und irrten tagelang durch die Wälder. Sie waren völlig verzweifelt. Sabri beschreibt, sie fühlten sich nicht mehr wie Menschen, sondern wie Tiere. Irgendwann lief er aus dem Wald und schrie selbst nach der Polizei als er einen Streifenwagen sah. Ihm war zu diesem Zeitpunkt alles egal – die Kinder brauchten dringend Wasser. Was dann passierte, beschreibt er als das Unmenschlichste, was er je erlebt hat. Die ungarischen Polizeibeamten gaben auch den Kindern keinen Schluck Wasser. Sie brachten die Familie in ein Gefängnis und warfen alle fünf in eine Zelle, in der schon etwa 100 Flüchtlinge aus aller Welt übereinander lagen. Es gab dort weder Nahrung noch Sanitäranlagen. Die Kinder tranken das Wasser aus der tropfenden Spülung der einzigen Toilette, die von 100 Menschen benutzt wurde. Sabri beschwerte sich bei dem Verantwortlichen, was das für ein Land sei, das selbst kleine Kinder in so eine Zelle sperre. Der drohte ihm daraufhin an, die Kinder in ein Heim zu bringen und ihn lebenslang im Gefängnis zu lassen. Drei Tage und Nächte lagen sie in dieser Zelle. Dann wurden sie in ein Camp nach Budapest gebracht. Als er dort wieder äußerte, er wolle doch auf keine Fall in Ungarn bleiben, riet man ihm: „Sei ruhig – Du bist hier in Ungarn und nicht in irgend so einem demokratischen Rechtsstaat.“

Im Camp trat dann schließlich ein türkischer Schleuser auf ihn zu und fragte ihn, ob er nach Deutschland wolle. Der Preis sei 800 Euro pro Person. Da Sabri so viel nicht mehr dabei hatte, einigten sie sich auf 2 500 Euro. Und so gelangten sie mit einem Großraumtaxi nach Deutschland. Man setzte sie in irgendeinem Dorf ab und mit seinen letzten 150 Euro kaufte Sabri ein Zugticket nach München, wo er einen Mitflüchtling aus dem Schlauchboot wiedertraf. Der lieh ihm dann das Geld für die Zugfahrt zu Sabris Bruder nach Wuppertal.

In Wuppertal meldete er sich bei den Behörden und gelangte über Dortmund, Duisburg schließlich nach Bramsche in Niedersachsen. Es sei dort zwar voll, aber keineswegs chaotisch gewesen. Sie seien gut untergebracht worden und hätten gleich erste Deutschkurse besuchen können. Die Frage Keuls, ob er denn dort auch schon angehört worden sei, verneint Sabri. Bislang habe er nicht einmal einen förmlichen Antrag stellen können. Es sei auch das erste Mal, dass ihn jemand nach seiner Geschichte frage.

Er und seine Familie seien in Nienburg sehr gut aufgenommen worden. Die Wohnung ist sehr schön und die Nachbarn sehr hilfsbereit. Letztere hätten den Kindern schon das Fahrradfahren beigebracht. Er bedankt sich ausdrücklich bei Iraki, der die Familie abgeholt hat und sich seitdem um ihre persönlichen Angelegenheiten kümmert. Als nächstes wird Iraki die Kinder in der Grundschule anmelden. Auf die Schule freuen sich alle schon sehr. Während die Erwachsenen noch erfüllt sind von dem Schmerz, um die verlorenen Heimat und die Sorge um die Verwandten hört sich das fröhliche „Tschüss“ von den Kindern schon sehr norddeutsch an.

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