1. Startseite
  2. Lokales
  3. Landkreis Nienburg
  4. Grafschaft Hoya

Flucht nach Westen: So weit die Füße tragen

KommentareDrucken

Arnold Korth wurde 1945 im Alter von 18 Jahren zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Anschließend musste er als Soldat an die Front.
Arnold Korth wurde 1945 im Alter von 18 Jahren zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Anschließend musste er als Soldat an die Front. © jaw

Bücken - Von Charlotte Reinhard. Als Arnold Korth im November 1945 am Haus seiner Tante Anna in Bad Münder bei Hannover anklopft, ist er am Ende. Sieben Monate ist er nach der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu Fuß von der Front in Schlesien nach Bad Münder gelaufen. Der Soldat aus dem schlesischen Schlobitten hat auf der Flucht vor den Russen gekämpft, gehungert und gebettelt. Jetzt sucht er seine Familie, von der er seit mehr als einem Jahr nichts mehr gehört hat. Er weiß nicht, ob sie noch leben, findet sie aber nach einer Odyssee durch halb Deutschland in Bücken.

In Bücken begann Korth ein neues Leben, heiratete und bekam Kinder. Seit 1987 ist der heute 90-Jährige Rentner und beschäftigt sich mit Heimatforschung.
In Bücken begann Korth ein neues Leben, heiratete und bekam Kinder. Seit 1987 ist der heute 90-Jährige Rentner und beschäftigt sich mit Heimatforschung. © jaw

„Anna, da draußen steht ein Soldat!“, tönt eine misstrauische Stimme aus dem Inneren des Hauses in Bad Münder. Der Onkel hat den jungen, zerlumpten Mann in Uniform noch nie gesehen. Als seine Frau die Tür öffnet, erkennt sie ihren Neffen sofort. Und sie weiß, wo sich Arnolds Korths Mutter, Bruder und Schwester aufhalten. Seit Januar 1945 hat Korth nichts mehr von ihnen gehört. Er weiß nicht, dass seine Familie in einem Flüchtlingstreck vor den vorrückenden Einheiten der Russen aus ihrer Heimat Schlobitten, dem heutige Slobity in Polen, nach Bücken geflüchtet ist. Er selbst lag zu diesem Zeitpunkt mit einer Schusswunde in einem Lazarett in Posen, nachdem der 18-Jährige als Soldat an der Front in Polen gekämpft hatte – „für Führer, Volk und Vaterland“, wie der heute 90-Jährige mit einem bitteren Unterton sagt. Arnold Korth hat Maschinenschlosser gelernt. Seine Ausbildung schließt er im Oktober 1942 ab. Am ersten Weihnachtsfeiertag bekommt er ein „unangenehmes Geschenk“, wie er sagt: Er wird zum Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen. Der RAD ist ein Dienst, den alle jungen Männer im nationalsozialistischen Deutschland vor Beginn ihrer Wehrpflicht leisten müssen. Er diente zur Vorbereitung auf den Krieg.

Zusammen mit 250 anderen jungen Männern wird er im RAD zum Kraftfahrer ausgebildet. Danach wird Korth in das von Deutschland besetzte Riga in Lettland versetzt und Fahrer des Kompaniechefs. „In dieser Zeit habe ich viel gesehen“, berichtet Korth. „Vor allem, wie die hohen Tiere so lebten – in Saus und Braus. Sie waren ständig betrunken. Die soffen, und wir haben unsere Knochen hingehalten.“

Korth ist gerade für ein paar Tage zu Hause, um dort Ersatzteile für ein Auto zu besorgen, als er den Stellungsbefehl zur Wehrmacht nach Schrötterburg an der Weichsel, heute die Stadt Plock in Polen, bekommt. Dort macht er die dreimonatige Grundausbildung. Danach soll er an die Front. Doch er wird krank und muss am Blinddarm operiert werden – damals alles andere als ein Routine-Eingriff. Sein dreiwöchiger Genesungsurlaub endet am 23. Dezember. „Anfang Januar wurden wir dann zum Partisaneneinsatz nach Polen verladen. Wir sollten dort Menschen töten“, erzählt Korth. „Doch ich kam nicht so weit.“

Korth wird wieder krank – diesmal ist es eine Nierenentzündung, die ihn für sechs Monate außer Gefecht setzt. Als er wieder gesund ist, gibt es kein Zurück mehr: Er muss an die Front. Was er dort erlebt, lässt ihn bis heute nicht los. „Es floss nur Blut“, fasst Korth die Erlebnisse an der Front zusammen. „Ich hatte Angst und habe Tag und Nacht gebetet.“

Irgendwann erwischt es auch ihn. Nachdem er nachts auf einem Baum Wache gehalten hat, springt der junge Mann zu seinen Kameraden in den Graben und stellt erstaunt fest, dass sein Arm aus einer Schusswunde blutet. „Ich habe gar nicht gemerkt, wie mich das Projektil getroffen hat“, sagt Korth.

Von einem Feldlazarett aus wird er nach Lötzen im früheren Ostpreußen transportiert. Schmerzmittel gibt es nicht. „Ich habe Tag und Nacht geschrien“, sagt Korth. In einem Lazarett in Samter bei Posen erholt er sich – bis ihn der Stationsarzt beiseite nimmt. „Sieh zu, dass du abhaust. Morgen kommt der Russe“, warnt er ihn. „Als ich aus dem Lazarett trat, stand ich auf einem Platz, umgeben von weinenden Frauen und Kindern“, erzählt Korth. „Zwei Frauen kamen zu mir und baten mich um Hilfe. Sie wussten nicht, wie man einen Pferdewagen lenkt.“

Korth kann mit Pferden umgehen. Zusammen mit drei Frauen und fünf Kindern flieht er in Richtung Westen. „Der Russe war immer einen Tag hinter uns.“ Drei Tage sind sie unterwegs, als ihnen eines Nachts die Pferde gestohlen werden. Sie gehen zu Fuß weiter, bis sie auf Einheiten der Wehrmacht stoßen, die sie bis nach Frankfurt an der Oder mitnehmen. Von dort geht es für Korth über Fürstenwalde und Berlin zurück an die Front in Schlesien, denn sein Genesungsurlaub ist vorbei.

Nach ein paar weiteren Monaten im Einsatz ist es vorbei: „Der Major hielt eine Ansprache und erklärte, dass Deutschland kapituliert hätte und der Krieg vorbei sei“, berichtet Korth. Er und seine Kameraden fürchten um ihr Leben und fliehen vor den vorrückenden Russen über das Riesengebirge nach Westen. Die ehemaligen Soldaten schleichen durch das Gebirge bis sie Bad Schandau in Sachsen erreichen, wo sich die Männer trennten. Arnold Korth macht sich auf den Weg nach Hannover, wo seine Tante wohnt. Unterwegs kommt er immer wieder bei Bauern unter, denen er bei der Arbeit hilft und dafür Essen bekommt. Einmal gerät er in amerikanische Gefangenschaft. „Als ich erfuhr, dass die Amis Gefangene an die Russen ausliefern, bin ich abgehauen“, berichtet Korth. Er flüchtet barfuß. Man hat ihm seine Stiefel abgenommen.

Korth folgt weiter seinem Ziel und kommt nach einigen Irrwegen nach Bad Münder, wo ihn seine Tante und sein Onkel Adorf aufnehmen. „Deine Eltern wohnen jetzt in Bücken“, erzählen sie ihm und erklären, dass seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester einen Flüchtlingstreck von Schlobitten nach Bücken überlebt haben. Sein Vater, der ebenfalls Soldat war, ist bereits auf dem Weg zu seiner Familie in Bücken. Auch Korth macht sich auf – wieder zu Fuß. Nach mehr als einem Jahr sieht er schließlich seine Familie wieder. In Bücken beginnt er ein neues Leben, arbeitet zuerst in einer Schlosserei, übernimmt dann einen Fischhandel, heiratet und bekommt Kinder. Seit 1985 ist er Rentner und beschäftigt sich mit Heimatforschung. Einmal im Jahr organisiert Korth ein Treffen ehemaliger Schlobitter. Schlobitten, seine alte Heimat, hat er nie vergessen. „Das Gesumme der Bienen in den Lindenalleen, die Kornfelder, die wie ein großes Meer wogten, und das Abendkonzert der Frösche – das alles höre und sehe ich heute noch, wenn ich die Augen schließe.“

Auch interessant

Kommentare