Der Kanzlerkandidatur-Anwärter* warnte vor einem zu einseitigen Fokus auf die Infektionszahlen. In Worten, die viele Kritiker irritierten. „Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet“, sagte er. „Wir können unser ganzes Leben nicht nur an Inzidenzwerten abmessen.“ Man müsse all die anderen Schäden, etwa für Gesellschaft und Wirtschaft, genauso im Blick haben wie die Inzidenzzahlen.
Der Kurs der Verbietens trage aber nicht auf Dauer, sagte Laschet am Montagabend. Man müsse das Virus und seine Mutationen* zwar ernst nehmen, aber zugleich zu einer abwägenden Position zurückkommen. So erlitten etwa Kinder, die monatelang nicht in Schule oder Kita gehen, vielleicht Schäden fürs ganze Leben.
Die Einlassungen Laschets polarisieren das politische Deutschland heftig. Dabei gab es nicht nur Kritik. FDP-Chef Christian Lindner etwa nahm die Äußerungen erfreut zur Kenntnis. „Für die Umsetzung seiner Linie ins Regierungshandeln hat der CDU-Vorsitzende unsere volle Unterstützung“, sagte Lindner am Dienstag der dpa. Eine Perspektive auf Öffnung sei möglich und dringlich. „Die Entwicklung der Zahlen lässt die Eingriffe in Grundrechte und die enormen Schäden des Lockdowns an vielen Stellen unverhältnismäßig werden“, so Linder weiter.
Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsbundestagsfraktion, Karin Maag (CDU*) riet, andere Parameter einzubeziehen als nur die Inzidenz. „Das sind politische Größen“, sagte sie der Welt. „Die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter und der Kliniken muss miteinbezogen werden. Dazu gibt es Schnelltests.“ Laschet hatte ohnehin eine durchaus bereits bestehende Stimmung aufgegriffen: Zum Wochenstart hatte sich die Kritik etwa an Merkels Berater-Auswahl gemehrt, wie unter anderem Merkur.de* berichtete.
Auf der anderen Seite gab es schwere Vorwürfe gegen den NRW-Ministerpräsidenten. „Wer wie Laschet von ‚erfundenen Grenzwerten‘ spricht, der zerstört Vertrauen in die Corona-Maßnahmen“, schrieb SPD-Fraktionsvize Katja Mast auf Twitter. Mast schrieb dazu, natürlich sei es richtig, bei Corona-Maßnahmen abzuwägen. Zugleich rügte sie die Rolle Laschet auf und nach dem Corona-Gipfel: „Allem zugestimmt und hinterher absetzen, spricht von schwachem Charakter“, erklärte sie. Ähnliches hatte sich zuletzt auch Schleswig-Holsteins Landeschef Daniel Günther (CDU) nach Kritik am Gipfel-Ergebnis anhören müssen.
Auch der prominente SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach zeigte sich irritiert. „Der Grenzwert von 35 wurde nicht ‚erfunden“, sondern abgeleitet von dem höheren R-Wert der Mutation B117“ des Coronavirus, erklärte er. Zudem sei der Lockdown nicht „populistisch“, sondern eher unbeliebt. Gegenwind gab es auch von Forschern. Der Immunologe Michael Meyer-Hermann hält es gar für möglich, dass ansteckendere Virusvarianten die angepeilte Inzidenz von 35 torpedieren. Sollte sich das Vorkommen der Mutante B.1.1.7 ungünstiger entwickeln als erwartet, könne es sein, dass die 35 mit dem aktuellen Lockdown nicht zu erreichen sei, sagte der Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig
Entsetzen war zudem bei den Grünen zu vernehmen. „Armin Laschet blendet aus, wie fatal die Auswirkungen für die Gesellschaft wären, wenn Lockerungen zu früh kämen“, sagte Kellner der dpa. Mit seinem Sinneswandel nach dem gemeinsamen Bund-Länder-Beschluss untergrabe Laschet „eine solidarische Pandemiebekämpfung, das höchste Gut in diesen Zeiten.“ „Das Virus verhindert, dass Leben normal wieder stattfindet, nicht ‚erfundene‘ Inzidenzwerte“, betonte Partei-Vize Ricarda Lang. „Dass Armin Laschet das entweder nicht verstanden hat oder bewusst anders darstellt, ist verantwortungslos“, warf sie dem CDU-Chef vor. (dpa/fn/AFP) *Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.