Kritik hagelt es nicht nur von dem ARD-Kommentator. „Nun mag man das typische deutsche Wortungetüm belächeln und über den protestantischen Orgienbegriff schmunzeln, aber es illustriert ein echtes Problem“, schreibt etwa die Welt. Die Kanzlerin beschreibe die Debatte über Lockerungen als einen „gefährlichen Exzess“. Das ließe auf „ein sehr skeptisches Menschenbild und ein überaus konservatives Bild von unserer Gesellschaft“ schließen. Dabei könne lediglich die Debatte über die Pandemiebekämpfung den Maßnahmen „ die Legitimität geben, die es braucht, um noch viele Monate durchzuhalten“.
Als „Mutter aller Albträume“ bezeichnet FAZ-Kommentator Berthold Kohler zwar ein mögliches Wiederaufflammen der Verbreitung des Coronavirus. Dennoch scheut er sich nicht, Merkel mit einem Vergleich mit dem oft unbelehrbar scheinenden US-Präsidenten Donald Trump zu konfrontieren. Vielfalt in der Diskussion um die Corona-Maßnahmen sie wichtig, denn: „Im Zweifelsfall – in dieser Krise gibt es ihn oft – ist es gut, wenn nicht nur eine/r etwas zu sagen hat. In Washington kann man sehen, wie es geht, wenn auf dem Hof allein ein Hahn kräht.“
„Merkel darf Diskussionen nicht abwürgen“, titelt auch der Tagesspiegel. „Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit müssen debattiert werden - auch auf die Gefahr hin, dass zu große Hoffnungen auf Normalität entstehen“, heißt es in dem Kommentar, der Merkels Unwillen gegenüber der Lockerungsdiskussion mit ihrem Hintergrund als Wissenschaftlerin erklärt. Doch auch wenn Öffnungen für die Kanzlerin offenbar nicht infrage kommen, dann kann das an sich noch kein Todschlagsargument sein. Vielmehr sei die verantwortungsvolle Politik in der Erklärungspflicht. Es dürfe hierbei keine „Denkverbote“ geben. „Obrigkeitliche Haltung ist da weder Bürgerpflicht noch hilfreich“, so der Kommentar. Vielmehr helfe die Diskussion, um die Lockerungen bei der Akzeptanz die strikten Maßnahmen anzunehmen, und durchzuhalten, „für eine gefühlte Ewigkeit“.
Der Münchner Merkur* sieht es differenzierter: „Es ist eine Gnade, die Bilder von den endlosen Reihen der Särge in Bergamo, von den mit Leichen gefüllten Kühllastern in New York verdrängen zu können. Vergessen sollten wir sie nicht. Die erste Welle an Infektionen ist in Deutschland gebrochen, dank schnellem Handeln der Politik und beeindruckender Disziplin sehr vieler Bürger. Doch noch schützt kein Impfstoff, kein Medikament. Kanzlerin Merkel hat sich ungeschickt ausgedrückt mit der Warnung vor „Öffnungsdiskussions-Orgien“ – in der Sache hat sie aber Recht: Der Weg raus aus den Corona-Maßnahmen wird komplizierter als der Weg rein. Die Debatten sind schon rauer geworden.“
nai
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