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Merkel erntet für „Orgien“-Satz vernichtende Kritik: ARD-Mann: „Eine Unverschämtheit“

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ARD-Kommentator Oliver Köhr übt massive Kritik an Kanzlerin Angela Merkel. Ihre Kritik an den Diskussionen um die Lockerungen sei „gelinde gesagt, eine Unverschämtheit“.

Berlin - Bundeskanzlerin Angela Merkel wird im Verlauf der Corona-Krise oft als kompetente Führungsperson gefeiert. Doch nun hat sich die Kanzlerin wohl im Ton vergriffen. Nachdem Merkel am Montag aus einer Schaltkonferenz des CDU-Präsidiums mit Kritik an „Öffnungsdiskussionsorgien“* zitiert wurde, hagelt es Kritik. Eine Demokratie muss diesen Diskussionen standhalten, so der Tenor. Doch der Journalist Oliver Köhr geht in seinem ARD-Kommentar noch einen Schritt weiter.

ARD-Kommentar mit heftiger Merkel-Kritik: „Öffnungsdiskussionen“ zu Corona-Lockerungen sind „notwendig“

Merkels Kritik an den „Öffnungsdiskussionen“ sei „gelinde gesagt eine Unverschämtheit. Weniger gelinde ist es anmaßend.“ Aber nicht nur das: In Anbetracht der aktuellen Grundrechtseinschränkungen in Deutschland* in „noch nie dagewesenem Ausmaß“ sei die Diskussion über Lockerungen nicht nur normal, sondern notwendig. „Auch wenn es die Kanzlerin nervt.“ 

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Diskussionen um weitere Lockerungen ungewöhnlich scharf kritisiert - jetzt erntet sie Kritik.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Diskussionen um weitere Lockerungen ungewöhnlich scharf kritisiert - jetzt erntet sie Kritik. © dpa / Markus Schreiber

Angela Merkel dürfe diese Diskussion nicht einfach „abwürgen“. Lediglich innerhalb der Diskussion um weitere Öffnung könne sie ihre Position verteidigen. „Angela Merkel hat die Pflicht, zu rechtfertigen, warum das vielleicht nicht geht“, so Köhr. Auch wenn die Maßnahmen in der Coronavirus-Pandemie* „aus gutem Grund“ getroffen würden: „Jeder einzelne hat das Recht jeden Tag zu fragen: Können wir nicht etwa mehr lockern, etwas mehr öffnen?“ 

Angela Merkel und die Corona-Krise: ARD-Kommentar sieht auch Chance in Diskussion

Merkel wisse das, deshalb habe sie ihre Position in der Corona-Krise und ihre große Sorge um einen Rückfall bei zu weiten Lockerungen auch noch einmal in einer Ansprache erörtert. Aber auch dieser Standpunkt ist einer, den der ARD-Kommentator nicht umfänglich teilt.

Die kreative Auslegung der Lockerungen durch einige Ministerpräsidenten könnte auch als Chance interpretiert werden, so Köhr, Redakteur und Moderator beim MDR Hörfunk. „Denn auch wenn Möbelläden und Outlet-Center öffnen, gilt das Abstandsgebot. Zu Orgien kann es da eigentlich nicht kommen. In 14 Tagen wird sich zeigen, ob wirklich dort die Infektionszahlen signifikant steigen, wo ein kleines bisschen mehr Freiheit gilt. Oder, ob die Menschen vielleicht gerade deshalb vernünftig sind.“

Kritik an Merkel: Corona-Debatte um „Öffnungsdiskussionsorgien“

Kritik hagelt es nicht nur von dem ARD-Kommentator. „Nun mag man das typische deutsche Wortungetüm belächeln und über den protestantischen Orgienbegriff schmunzeln, aber es illustriert ein echtes Problem“, schreibt etwa die Welt. Die Kanzlerin beschreibe die Debatte über Lockerungen als einen „gefährlichen Exzess“. Das ließe auf „ein sehr skeptisches Menschenbild und ein überaus konservatives Bild von unserer Gesellschaft“ schließen. Dabei könne lediglich die Debatte über die Pandemiebekämpfung den Maßnahmen „ die Legitimität geben, die es braucht, um noch viele Monate durchzuhalten“. 

Als „Mutter aller Albträume“ bezeichnet FAZ-Kommentator Berthold Kohler zwar ein mögliches Wiederaufflammen der Verbreitung des Coronavirus. Dennoch scheut er sich nicht, Merkel mit einem Vergleich mit dem oft unbelehrbar scheinenden US-Präsidenten Donald Trump zu konfrontieren. Vielfalt in der Diskussion um die Corona-Maßnahmen sie wichtig, denn: „Im Zweifelsfall – in dieser Krise gibt es ihn oft – ist es gut, wenn nicht nur eine/r etwas zu sagen hat. In Washington kann man sehen, wie es geht, wenn auf dem Hof allein ein Hahn kräht.“

Merkels Absage an „Öffnungsdiskussionen“: Presse-Aufschrei in Corona-Krise

„Merkel darf Diskussionen nicht abwürgen“, titelt auch der Tagesspiegel. „Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit müssen debattiert werden - auch auf die Gefahr hin, dass zu große Hoffnungen auf Normalität entstehen“, heißt es in dem Kommentar, der Merkels Unwillen gegenüber der Lockerungsdiskussion mit ihrem Hintergrund als Wissenschaftlerin erklärt. Doch auch wenn Öffnungen für die Kanzlerin offenbar nicht infrage kommen, dann kann das an sich noch kein Todschlagsargument sein. Vielmehr sei die verantwortungsvolle Politik in der Erklärungspflicht. Es dürfe hierbei keine „Denkverbote“ geben. „Obrigkeitliche Haltung ist da weder Bürgerpflicht noch hilfreich“, so der Kommentar. Vielmehr helfe die Diskussion, um die Lockerungen bei der Akzeptanz die strikten Maßnahmen anzunehmen, und durchzuhalten, „für eine gefühlte Ewigkeit“.

Der Münchner Merkur* sieht es differenzierter: „Es ist eine Gnade, die Bilder von den endlosen Reihen der Särge in Bergamo, von den mit Leichen gefüllten Kühllastern in New York verdrängen zu können. Vergessen sollten wir sie nicht. Die erste Welle an Infektionen ist in Deutschland gebrochen, dank schnellem Handeln der Politik und beeindruckender Disziplin sehr vieler Bürger. Doch noch schützt kein Impfstoff, kein Medikament. Kanzlerin Merkel hat sich ungeschickt ausgedrückt mit der Warnung vor „Öffnungsdiskussions-Orgien“ – in der Sache hat sie aber Recht: Der Weg raus aus den Corona-Maßnahmen wird komplizierter als der Weg rein. Die Debatten sind schon rauer geworden.“

nai

*Merkur.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.

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