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Scheitert Merkels Stil an der Corona-Krise? „Instrumente des 19. Jahrhunderts“ - Kanzlerin und Landeschefs in der Kritik

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Im Corona-Herbst droht Deutschland einiges „Unheil“. Die Opposition gibt daran auch Kanzlerin und Landeschefs die Schuld. Sogar die Regierung sieht intern Probleme. Scheitert Merkels Stil bei Corona?

Berlin - Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wird gerne ein sehr spezieller Regierungsstil nachgesagt: Weniger durch hochtrabende eigene Initiativen glänze die Kanzlerin, denn durch die Moderation von Mehrheiten - im Land, im Parlament, in der Koalition - so heißt es nach 15 Jahren Merkel. Angesichts der langen Ära kann dieser Stil nicht ganz ohne Vorzüge sein.

Im Ausland werden auch Deutschlands Erfolge in der Pandemie bewundert. Merkel gilt dabei vielerorts als Gesicht der Errungenschaften. Doch nun, kurz vor dem Corona-Herbst, wird in ihrem eigenen Land ein so unangenehmer wie bezeichnender Vorwurf laut: Merkels Bundesregierung habe wichtige Weichenstellungen in der Pandemie verschlafen. Dasselbe müssen sich die Landesregierungen anhören.

Corona-Politik in Deutschland: Merkels Regierung von Offensichtlichkeiten „überrascht“? FDP und Linke rügen Versäumnisse

Kritik übte Anfang der Woche etwa Linke-Chefin Katja Kipping. Die von ihr im Sender WDR5 vorgebrachte Mängelliste liest sich wie eine Sammlung verpasster Offensichtlichkeiten: Die Bundesregierung sei „von Urlaubsrückkehrern überrascht worden, dann vom Schulanfang, dann von den kalten Temperaturen“, rügte Kipping.

„Man hätte die Zeit nutzen müssen, um besser für den Winter vorbereitet zu sein“, sagte die Linke. Als Beispiele nicht genutzter Chancen nannte sie die flächendeckende Einführung von Schnelltests, den Einbau von Luftfiltern oder Plexiglas-Scheiben in Schulen oder Lokalen. Nun werde aber nur wieder über verschärfte Maßnahmen diskutiert. Am Donnerstag verkündete das Robert-Koch-Institut neue Rekord-Infektionszahlen.

Auch FDP-Fraktionsvize Michael Theurer schoss jüngst scharf gegen die Entscheidungsträger von Bund und Ländern. Die Verantwortlichen hätten seit April Zeit gehabt, einheitliche Regeln zu erarbeiten. „Wo ist das einheitliche Reiserückkehrer-Management, wo ist die ganzheitliche Teststrategie, wo sind die Push-Nachrichten, wo die Menschen nach Testergebnissen
benachrichtigt werden?“

Stattdessen kehre man immer noch zu den Instrumenten des 19. Jahrhunderts zurück; zu Stift, Papier und Quarantäne. „Die Entscheidung muss weg von der Exekutive und zurück in den Deutschen Bundestag und in die Landtage“, forderte Theurer.

Merkel in Corona-Schwierigkeiten? „Regierungskreise“: „Appelle dringen weniger deutlich durch“

Aktuell liegen viele dieser Entscheidungen bei der Bundesregierung und vor allem bei den Ländern. Und genau das sorgte zuletzt für Probleme. Denn beim Navigieren durch die Krise funktioniert Merkels Moderation derzeit nicht immer: Nach dem Bund-Länder-Treffen musste die Kanzlerin eine Niederlage eingestehen. Die Maßnahmen gingen ihr nicht weit genug.

Mit Vermittlung war bei den Ministerpräsidenten offenbar einiges, aber nicht alles zu erreichen. Das Beherbergungsverbot etwa blieb Zankapfel. Bis es sich - teils mithilfe von Gerichtsentscheiden - selbst zerlegte. Die Kanzlerin biss auf Granit. Und erlebte damit ansatzweise die Neuauflage einer unangenehmen Situation aus dem Corona-Mai.

Zugleich dämmert ein anderes Problem herauf. Wieder just dort, wo Merkel hart sein will: Man sei sich bewusst, dass Merkel mit ihren Appellen weniger deutlich durchdringe, heißt es aus Regierungskreisen, wie der Sender n-tv unter Berufung auf die Agentur Reuters berichtet.

Corona und die Macht: Experte warnt vor „schleichendem Gift“ - FDP stellt klare Forderung ans Kanzleramt

Wohl weniger aufgrund dieser Schwierigkeiten, denn aus Angst übergangen zu werden, wollen nun tatsächlich die Parlamente wieder mehr Macht an sich ziehen. Mehr als ein halbes Jahr nach den ersten Lockdowns fordern praktisch alle Bundestagsparteien mehr Mitsprache - inklusive der Union. Den ersten neuen Lockdown hatte diese Woche übrigens Bayerns Ministerpräsident Markus Söder höchstpersönlich verkündet. Auch daran gab es Kritik.

An grundsätzlichen Bedenken aus der Zivilgesellschaft gegen die aktuelle Situation mangelt es nicht. Der Historiker Paul Nolte sprach in einem Interview mit dem WDR von einem „schleichenden Gift“, das sich in Form von „Verordnungspolitik von oben“ und in „Ministerpräsidentenrunden“ ausbreite. Ein renommierter Politikwissenschaftler rügte kürzlich ein „Regieren durch Angst“.

Die Liberalen wollen die Kanzlerin zudem lieber im Parlament als mit den Ministerpräsidenten offen sprechen hören. Ihr Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland mit Blick auf kolportierte Aussagen Merkels bei der letzten Sitzung mit den Ministerpräsidenten: „Wenn von Unheil die Rede ist, hat die Öffentlichkeit ein Recht zu erfahren, was das heißt.“ Dem Bericht zufolge forderte er in einem Schreiben an das Kanzleramt die Regierungserklärung für die nächste Bundestagssitzungswoche. Merkel solle darlegen, wie sie die Lage einschätze, was sich hinter dem Bild des „Unheils“ verberge, welche Maßnahmen sie für nötig halte und welche davon an den Ministerpräsidenten gescheitert seien.

Corona-Krise: Sonderrechte für Merkels Minister - Roth sieht „unersättlichen“ Hunger nach Ermächtigungen

Hat die Bundesregierung auch an dieser Stelle geschlafen? Auch die Einbindung der Parlamente hätte im ruhigen Corona-Sommer durchaus starten können. Stattdessen rudert Merkels Regierung nun aber in eine andere Richtung: Zum Unwillen der Opposition und des Koalitionspartners soll - der mittlerweile selbst an Corona erkrankte - Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit neuen Sonderrechten ausgestattet werden.

Hier immerhin sind Merkel und Spahn vergleichsweise früh dran: Noch bis März 2021 laufen aktuell die Ausnahmebefugnisse des Ministers. Doch just dieser Vorstoß passt offensichtlich nicht mehr in die aktuelle Pandemie-Phase. Die SPD hat bereits verlauten lassen, der Plan werde „so nicht kommen“. Und besonders deutlich wurde die grüne Bundestags-Vizepräsidenten Claudia Roth: „Es kann nicht sein, dass ein Minister unersättlich mehr Ermächtigungen will, dass er eine Art unbefristete Generalermächtigung will“, sagte sie im Deutschlandfunk. (fn) *Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.

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