Möglicherweise geht Ramelow aber etwa weiter - er ließ sich per Protokollnotiz bei den von Bund und Ländern verhandelten neuen Kontaktbeschränkungen einen Sonderweg offen. Fast trotzig sagte er: „Weil ich kein Stück zurückrudere.“ „Staatliche Verordnungen sind Noteingriffe“, die nur berechtigt seien, wenn das Infektionsgeschehen das erfordere. „Diese Begründungspflicht liegt bei uns“, so Ramelow. Und: „Ich haben niemandem gesagt, reißt euch den Mundschutz runter.“
Aber warum ist die Situation im Osten anders als im Westen? Fachleute nennen mehrere Gründe: Die vergleichsweise niedrige Bevölkerungsdichte oder einen relativ hohen Anteil älterer Menschen - in Thüringen ist etwa jeder Dritte 60 Jahre und älter. Diese Menschen gehören zwar zur Risikogruppe, aber sie gelten als weniger mobil und könnten entschleunigend bei der Virus-Ausbreitung gewirkt haben, so eine Erklärung vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie.
Und wahrscheinlich haben weniger Ostdeutsche in Skigebieten wie Ischgl in Österreich Urlaub gemacht und das Virus eingeschleppt. Als die Beschränkungen in Deutschland begannen, gab es zwischen Ostsee und Thüringer Wald erst verhältnismäßig wenige Infektionen. Die Corona-Prävention wirkte damit in einer frühen Phase, glauben Experten.
Ob sich Ramelow, dessen Corona-Alleingang auch in seiner rot-rot-grünen Koalition in Erfurt für Irritationen sorgt, durchsetzen kann, werden die nächsten Tage zeigen. An diesem Dienstag (2. Juni) will sich das Kabinett mit den Vorschlägen des Regierungschefs befassen, nach denen nur noch das Abstandsgebot und die Maskenpflicht* in öffentlichen Verkehrsmitteln bliebe. Zudem soll ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner pro Woche gelten - ist er erreicht, gibt es regionale Beschränkungen.
Ein Problem für Ramelow bleibt der Landkreis Sonneberg direkt an der Grenze zu Bayern, auf den auch Söder schaut. Dort gibt es nach wie vor Corona-Ausbrüche - zuletzt vor Pfingsten in einem Pflegeheim mit hochbetagten Bewohnern.
Am Wochenende legte der Thüringer Ministerpräsident in einem Beitrag auf seiner Homepage nach. „Ich möchte den Menschen gute Empfehlungen für den Umgang im Privaten geben, nicht aber Verbote erlassen, die am Ende zu polizeilichen und ordnungsrechtlichen Maßnahmen führen“, betonte er. Das Virus lasse sich nicht „verhaften“ - und auch nicht mit Angst bekämpfen. Mit Blick auf Söder erklärte Ramelow, nötig seien nicht „Drohgebärden“, sondern gemeinsame Maßnahmen.
Sollte sich Ramelow durchsetzen, könnte er als Öffner in der Corona-Krise gelten, während Söder vor allem mit seinem restriktiven Kurs* gepunktet hat. Der bayerische Ministerpräsident hat sich mit seiner Politik der erhöhten Vorsicht auf der Beliebtheitsskala deutscher Politiker weit nach oben katapultiert. Im jüngsten ZDF-Politbarometer lag der als solider Krisenmanager wahrgenommene Franke auf Rang zwei hinter Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Mittlerweile wird sogar lauter über Kanzler-Pläne Söders spekuliert.
Dabei sind die Erfolge Söders gar nicht so eindeutig. Mit Rosenheim, Regensburg und dem Landkreis Coburg liefert Bayern seit Wochen den jeweiligen bundesweiten Spitzenreiter bei den wöchentlichen Neuansteckungen im Verhältnis zur Bevölkerung. In Thüringen waren es tagelang die Kreise Greiz und Sonneberg.
Nach einer neuen Umfrage hat Ramelow mit seinem Kurs nur jeden Vierten hinter sich: Seine radikalen Lockerungspläne werden laut ZDF-Politbarometer von 72 Prozent der Deutschen abgelehnt.
dpa/fn
Zieht es Söder „in den Norden“? Der Münchner Merkur* sieht in den aktuellen Plänen des bayerischen Ministerpräsidenten ein Indiz für Kanzlerambitionen - hier geht es zum Kommentar.
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