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„Regieren durch Angst“: Renommierter Wissenschaftler rügt Merkel und Söder - und spricht von „Verbotswettbewerb“

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Kanzlerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. (Archiv)
Kanzlerin Angela Merkel und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. (Archiv) © Michele Tantussi/dpa

Angela Merkel und die Ministerpräsidenten stellen in Berlin Corona-Weichen. Die Kritik an konkreten Ideen und der allgemeinen Linie wächst - auch Markus Söder ist in der Schusslinie.

Berlin/München - Zumindest ein Fakt ist unumstößlich: Die Corona-Fallzahlen in Deutschland steigen wieder - und zwar massiv. Wie sinnvoll die aktuellen Gegenmaßnahmen der Politik sind, darüber gehen die Meinungen teils auch unter Virologen auseinander. Beherbergungsverbot und Sperrstunden sind alles andere als unumstritten.

Am Mittwoch werden die Weichen im Kanzleramt gestellt. Die Stoßrichtung der Bundesregierung war früh klar: Mehr Maskenpflicht, mehr Sperrstunden, eventuell auch wieder Kontaktsperren. Doch genau an dieser Grundmarschroute gibt es Kritik sehr grundsätzlicher Art. Nicht aus verschwörungstheoretischer Ecke, sondern von einem renommierten Demokratietheoretiker.

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Denn der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat in einem Interview mit Zeit Online ein drastisches Urteil über einige Protagonisten in der Corona-Krise gefällt - darunter auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). „In einer freien, demokratischen Gesellschaft sollte es so wenige Verbote geben wie nötig und möglich“, sagte Merkel dem Portal. „Was wir seit Beginn der Corona-Krise aber beobachten, ist ein Überbietungswettbewerb im Verbieten.“

Als Grund sieht er die in Umfragen gemessenen Reaktionen der Bevölkerung: In den Erhebungen werde belohnt, wer „die meisten Verbote fordert“: „Dafür steht vor allem der bayerische Ministerpräsident Markus Söder.“ Das Feedback aus den Umfragen gebe für die Politik einen Anreiz „eher mehr zu verbieten, als unbedingt sein muss“. Tatsächlich warnte Söder selbst Berichten zufolge die Gipfelteilnehmer am Mittwoch mit den Worten: „Die Bevölkerung wird ihr Urteil sprechen. Politiker in anderen Ländern, die geschwankt sind und zu früh geöffnet haben, wurden fundamental abgestraft.“

Der Forscher der Humboldt-Universität Berlin wählte eine wuchtige Wortfolge, um das Agieren der Bundes- und vieler Landesregierungen zusammenzufassen: „Governance by fear, Regieren durch Angst“. Gemeint sei damit nicht „irrationale Angst“ von Corona-Leugnern, sondern eine eigentlich „rationale Angst“, die sich aus wissenschaftlichen Einschätzungen speise. Aus Expertenmeinungen wähle die Politik aber stets das Worst-Case-Szenario, kritisierte Merkel. „Um nicht abgewählt zu werden“ - aber auch „der humanitären Sache wegen“, wie der Politologe einräumte.

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Ähnliche Einwände hatte es bereits zuvor gegeben - auch aus der deutschen Politik. „Wir sollten nicht schon wieder mit der Angst operieren. Das hilft wirklich nicht weiter, ist meiner Meinung nach sogar gefährlich“, sagte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) just vor dem vorangegangene Bund-Länder-Gipfel dem Spiegel. Hintergrund war damals der Streit um die Absage des Karnevals. Dieser Schritt wird mittlerweile allerdings kaum noch angezweifelt. Zuletzt warnten auch die Ministerpräsidenten Sachsens und Sachsen-Anhalts, Michael Kretschmer und Reiner Haseloff (beide CDU) vor Alarmismus. Alle drei Bundesländer sind gleichwohl minder stark von Corona betroffen.

In den Fokus geriet zuletzt auch die Zahl der Neuinfektionen als Maßgabe für Corona-Regelungen. „Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfektionen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, das führt zu falschem Alarmismus“, sagte der Chef des Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, der Neuen Osnabrücker Zeitung. Die Bundesregierung verteidigte diesen Indikator: Von der Zahl hänge ab, ob die Gesundheitsämter in der Lage seien, die Kontaktverfolgung aufrechtzuerhalten.

Wissenschaftler Merkel spielte in seinem Interview aber auch konkret auf unterschiedliche Haltungen der führenden Virologen an. So sei der „pessimistischere“ Vertreter seines Fachs, Christian Drosten, die wissenschaftliche Referenz für die Bundesregierung und nicht etwa der in seinen Ratschlägen moderatere Hendrick Streeck. Auch hier gibt es gleichwohl ein kleines „Aber“ bei der Einordnung der Meinungen: Drosten ist länger mit dem Thema Coronaviren befasst - Streeck hatte lange Zeit vor allem zum Thema HIV geforscht.

Zweiterer hatte zuletzt auch eine düstere Warnung von Kanzlerin Angela Merkel relativiert*: „20.000 Neuinfektionen pro Tag, das klingt erstmal nach Apokalypse. Das sind enorme Zahlen. Aber im Grunde sollte uns das keine Angst machen“, sagte er. Milde Verläufe spielten keine so große Rolle im Infektionsgeschehen. Merkel hatte modellhaft einen Anstieg der Fallzahlen bis Weihnachten vorgerechnet.

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Auch das kritisierte Wolfgang Merkel: Apokalyptik lasse auf Dauer nicht durchhalten, warnte er. „Wenn die Kanzlerin sich hinstellt und vorrechnet, wo genau die Infektionszahlen an Weihnachten liegen könnten, dann suggeriert sie damit eine Präzision und eine Eindeutigkeit, die es gar nicht geben kann.“ Ungeachtet dessen könne der Wissenschaft auf Dauer eine Rolle zukommen, die „undemokratisch wird“, warnte er. Politik könnte aus dem „Modus der Repräsentation“ in den „Modus der Wahrheit“ wechseln: „Als gäbe es nur eine wissenschaftliche Wahrheit.“

Den am Mittwoch ausgefochtenen Streit um das - seiner Ansicht nach unsinnige - Beherbergungsverbot wertete der Politologe Merkel als Chance für den Wechsel in eine „nüchternere Corona-Politik, die wieder den besten Argumenten folgt und nicht der größten Furcht“. Zumindest diese konkrete Regel stieß tatsächlich auch bei Mahnern in der Corona-Krise auf Widerstand - auf Basis wissenschaftlicher Argumente: „Keine Studie zeigt, dass das Reisen innerhalb Deutschlands ein Pandemietreiber ist. Ich löse mit diesen Regeln also kein Problem, weil es da kein Problem gibt“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der Süddeutschen Zeitung.

Lauterbach warnte auch, die Regelung könne Akzeptanz für wichtigere Maßnahmen kosten. Der aktuelle Streit könnte das unterstreichen. Was genau die besten Argumente sind, dürfte allerdings im Auge der Betrachter liegen. Eine handfeste Bewertung des Ringens um den richtigen Corona-Kurs wird wohl erst die Rückschau bringen - und mit Menschenleben steht ein hoher Preis auf dem Spiel.

Unterdessen erstarken jedenfalls Forderungen nach mehr Mitbestimmung durch die Parlamente. „Es wird allerhöchste Zeit für demokratische Legitimierung der Corona-Politik“, sagte Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Über die Grundlinien der Corona-Maßnahmen müsse im Bundestag diskutiert und entschieden werden, nicht nur in den Staatskanzleien, sagte der Linksfraktionschef. „Es wird zu viel verkündet und kaum noch etwas begründet“, betonte er. (fn) *Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.

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