Istanbul - In einem „Manifest“ kritisiert Ahmet Davutoğlu den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Darin unterstellt der ehemalige Ministerpräsident und Ex-Vertraute Erdoğans den türkischen Machthabern eine „arrogante Politik“. Der Vorstoß gilt bei Beobachtern und Experten als mutig - und zeigt, wie geschwächt der türkische Präsident und dessen regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) nach der Wahlschlappe bei der Kommunalwahl sind.
Davutoğlu war einst einer von Erdoğans Vertrauten. Der türkische Präsident hatte den Politikprofessor persönlich gefördert und zu einem seiner engsten Berater gemacht. Davutoğlu machte daraufhin schnell Karriere - und wurde Außenminister. Als Erdoğan 2014 Präsident wird, wird Davutoğlu Nachfolger in dessen Ämter als Ministerpräsident und AKP-Chef.
Das mehrseitige „Manifest“ auf Facebook, das Davutoğlu selbst als solches bezeichnet, ist nicht seine erste Kritik an Erdoğan - wohl aber die bisher lauteste. Nach Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Erdoğans geforderte Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei trat der Davutoğlu 2016 von seinem Amt als Ministerpräsident zurück. Und obwohl dieser Akt nicht ganz freiwillig wirkte, schwor Davutoğlu dem Präsidenten Treue und Rückhalt - und sah gänzlich von Kritik ab. Jetzt scheint Erdoğan, der bekanntermaßen scharf gegen seine Kritiker vorgeht, aber angreifbar zu sein.
Die Bürger hatten die türkische Regierungspartei AKP bei der Kommunalwahl im April abgestraft. In Istanbul gewann sogar Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu von der Partei CHP das Bürgermeisteramt. Am Mittwoch ordnete die Wahlleitung auf Drängen der AKP allerdings eine Neuauszählung in Teilen der Metropole an. Ob diese die AKP aber nach vorne bringt, bleibt abzuwarten. Und offenbar bringen sich Erdoğans Kritiker in Stellung.
Laut einem Bericht der Zeit wird in Expertenkreisen seit längerem gemunkelt, dass Davutoğlu an der Gründung einer neuen Partei arbeitet. Seine Mitstreiter sollen der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül und die früheren Minister Ali Babacan, Mehmet Şimşek und Beşir Atalay sein.
Die öffentliche Regierungskritik im „Manifest“ wird nun als ein erster Schritt in Richtung Davutoğlus Parteigründung gewertet. Wie angeschlagen Erdoğan und seine AKP sind, zeigt auch das Drohgebahren des türkischen Präsidenten. Erst vor wenigen Tagen warnte er parteiinterne Widersacher: „Wir werden sie zur Rechenschaft ziehen, wenn die Zeit gekommen ist.“ Gerade deshalb könnte die Kritik am Präsidenten aber auch besonders gefährlich und dessen Vergeltungsschlag besonders hart sein.
Der vorzeitige Abbruch eines Fernsehinterviews mit dem Istanbuler Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu hat in der Türkei für scharfe Kritik gesorgt.
Eigentlich wurde Imamoglu schon zum neuen Bürgermeister von Istanbul gewählt. Die Erdogan-Partei AKP schaffte es aber die Wahl annullieren zu lassen. Ein Verlust von der Metropole würde Erdogan viel Geld kosten.
+++ Update vom 23. Juni: Jetzt gilt es. Die Wahllokale in Istanbul haben geöffnet. Die Istanbuler brechen im ganzen Land ihren Urlaub ab und reisen zum Wählen in die Metropole. Wir begleiten den Wahllabend in einem Live-Ticker mit allen News, Ergebnissen und Stimmen zur Schicksalsabstimmung für Erdogan, die Istanbul-Wahl in der Türkei. +++