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Trump gegen Biden: Zweifel an der „Musterdemokratie“ - Fünf Millionen US-Bürger dürfen nicht wählen

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US-Wahl: Ein Mann wirft in Seattle seinen Stimmzettel ein
Ein Mann wirft in Seattle seinen Stimmzettel ein - dieses Recht haben Millionen US-Bürger aktuell nicht. © Elaine Thompson/dpa

Es könnte eine überaus entscheidende Wahl werden. Doch wenn am 3. November der US-Präsident bestimmt wird, können Millionen US-Amerikaner keine Stimme abgeben.

Washington D.C. - Fast 5,2 Millionen US-Amerikaner werden an der Wahl des US-Präsidenten 2020* nicht teilnehmen dürfen, weil sie in der Vergangenheit für eine Straftat verurteilt wurden. Das zeigt eine neu veröffentlichte Studie.

Untersuchungen der Organisation „Sentencing Project“ zeigen, dass Straftäter*innen noch immer häufig vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, was in den USA als „felony disenfranchisement“ bezeichnet wird – trotz etlicher Gesetzesreformen in den Bundesstaaten in den letzten 25 Jahre.

„In den Staaten wurde viel getan, um den Entzug des Wahlrechts bei Straftaten in Frage zu stellen. Aber es gibt trotzdem noch viel zu tun“ sagt Nicole D. Porter, Leiterin der Interessenvertretung beim Sentencing Project, BuzzFeed News USA. Hinter dem Projekt steht eine US-amerikanische NGO, die sich unter anderem für Strafjustizreformen engagiert. Masseninhaftierung sei ein Problem, so Porter. Zudem sei die Zahl der Menschen, denen das Wahlrecht entzogen wurde, noch immer „zu hoch für ein Land, das als Musterdemokratie angesehen werden will.“

US-Wahl 2020: Jede sechzehnte schwarze Person im wahlfähigen Alter darf in den USA nicht wählen

Der Bericht Locked Out 2020 der NGO schätzt, dass dieses Jahr 5,17 Millionen Straftäter und Straftäterinnen von der Wahl ausgeschlossen sind. Das sind 15 Prozent weniger als 2016, wo aufgrund des „felony disenfranchisement“ geschätzt 6,11 Millionen US-Amerikaner*innen nicht wählen konnten.

Laut der Studie ist der Entzug des Wahlrechts bei Straftaten vor allem in den Südstaaten stark verbreitet. Dort wurden die Beschränkungen in der Vergangenheit genutzt, um besonders schwarze US-Amerikaner von den Wahlen auszuschließen. So können etwa in den Bundesstaaten Alabama, Florida, Mississippi und Tennessee noch immer mehr als sieben Prozent der Erwachsenen wegen der Verurteilungen von Straftaten nicht wählen.

USA: Ringen um das Recht zu wählen - Floridas Republikaner bremsen Verfassungsänderung aus

In den USA betrifft der Wahlrechtsentzug überproportional viele Schwarze und andere „BIPOC“-Gemeinschaften, wie indigene oder nicht-weiße Menschen. Laut der Studie darf in den USA jede sechzehnte schwarze Person und fast jede fünfzigste Person lateinamerikanischer Herkunft im wahlfähigen Alter nicht wählen. Unter nicht-schwarzen Erwachsenen hingegen ist es nur eine von 59 Personen.

Die Studie schätzt außerdem, dass in Florida* noch immer rund 900.000 Menschen von der Wahl ausgeschlossen sind, obwohl sie bereits ihre Strafe bereits verbüßt haben. Daran änderte offenbar auch eine Verfassungsänderung nichts, die im Jahr 2018 eine überwältigende Zustimmung der Wählerschaft erhielt und etwa 1,4 Millionen ehemaligen Straftätern die Möglichkeit gab, wieder zu wählen.

Der Grund hierfür ist ein Gesetz, welches vergangenes Jahr von dem republikanischen Gouverneur Ron DeSantis unterzeichnet wurde: Damit machte er die Wiedererlangung des Wahlrechts abhängig davon, dass ausstehende Restitutionen, Geldstrafen und Gebühren im Zusammenhang mit den Verurteilungen beglichen werden.

Ehemalige Straftäter verklagten daraufhin den Staat Florida. Ihr Argument: Das Gesetz schaffe ein sogenanntes pay to vote-System, also „zahlen, um zu wählen“ – das aber ähnele Wahlsteuern, genannt poll taxes. Dabei handelt es sich um Abgaben, die Wähler einst bezahlen mussten, um das Wahlrecht zu erhalten. Heute sind sie per Verfassung verboten, weil sie als diskriminierend gelten.

US-Wahl: Viele Menschen ausgeschlossen - Mehr als 27 Millionen US-Dollar Spenden für ehemalige Straftäter

Ein Bundesberufungsgericht jedoch bestätigte das Gesetz von DeSantis am 11. September 2020 mit knapper Mehrheit. Als Reaktion darauf richteten Mitglieder der „Florida Rights Restoration Coalition“, der Gruppe hinter der Verfassungsänderung von 2018, einen Fonds für Geldbußen und Gebühren ein. Diese „Koalition zur Wiederherstellung der Rechte in Florida“ arbeitete mit Gerichtsbeamten in allen 67 Bezirken zusammen. Ihr Ziel: Ehemaligen Straftätern zu helfen, ihre Geldbußen auszurechnen und abzuzahlen oder Strafumwandlungen zu erwirken.

Die Organisation begann Ende 2019, die Bußgelder für Straftäter zu begleichen. Mehr als 86.000 Menschen spendeten seitdem mehr als 27 Millionen US-Dollar für den Fond, ein großer Teil davon ging nach der Gerichtsentscheidung im vergangenen Monat ein.

„Wir tun, was wir können, um für Menschen finanzielle Hürden zu beseitigen, die zu arm sind, um diese gerichtlichen Zahlungsverpflichtungen zu begleichen“, sagt Desmond Meade, geschäftsführender Direktor der Koalition, BuzzFeed News am Telefon.

Florida bei den US-Wahlen im Fokus - auch wegen ausgeschlossener Bürger: „Das ist noch immer ein Problem“

Porter von Sentencing Project weist darauf hin, dass die Schätzung der Koalition zur Anzahl der Straftäter ohne Wahlrecht aus der Zeit vor der Gerichtsentscheidung vom 11. September stamme: „Zweifellos gibt es derzeit eine geringere Anzahl an Menschen, denen das Wahlrecht entzogen wurde, gemessen zu dem Zeitpunkt, als wir sie auf knapp 900.000 schätzten.“ Zum Zeitpunkt des Gerichtsbeschlusses gab die Koalition an, sie habe durch ihr Programm mehr als 4000 ehemaligen Straftätern geholfen. Vertreter der Koalition hatten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags noch nicht auf eine Anfrage bezüglich aktueller Zahlen reagiert.

Laut dem Politikwissenschaftlers Dan Smith von der University of Florida, der die Auswirkungen des Gesetzes untersucht hat, ist es schwer zu sagen, wie viele ehemalige Straftäter sich in Florida für die Wahl registriert haben. Der Bundesstaat erfasst diesbezüglich keine Daten. Zudem gibt es kein zentrales System, das angibt, wie viele Schulden Menschen haben – das erschwert es ehemaligen Straftätern überhaupt herauszufinden, ob sie ausstehenden finanziellen Verpflichtungen haben – und wählen dürfen, oder nicht.

„Das ist noch immer ein Problem“, sagt der Wahlrechtsaktivist Meade von der Koalition. „Deshalb ist unsere Arbeit so wichtig und notwendig: Dass wir das zusammen mit den Beamten durcharbeiten.“

Präsidentschaftswahl in den USA: „Lässt einen spüren, dass man nicht mehr Teil der Gesellschaft ist“

Sogar Meade, seit einem Jahrzehnt Aktivist, fand erst Anfang des Jahres über sein letztes Gnadengesuch heraus, dass er noch 1200 Dollar Schulden hatte. Als er sich Jahre zuvor nach seinen Schulden erkundigte, hatte man ihm offenbar fälschlicherweise erzählt, er diese seien beglichen. „Ich konnte es mir leisten, das zu bezahlen“, sagt er. „Aber es zeigt, wie kompliziert dieses System ist. Und wenn einer Person wie mir so etwas passiert, naja, was bedeutet das für den Durchschnittsbürger?“

Für den 45-jährigen Dolce Bastien, der in den 1990er Jahren wegen einer Straftat verurteilt wurde, hat die Arbeit der Koalition all das vereinfacht. 2019 unterstütze ihn die Gruppe dabei, sicherzustellen, dass er all seine Schulden bei den Gerichten beglichen hatte. Diesen Herbst plant er zum ersten Mal in seinem Leben zu wählen. „Ich freue mich darauf“, sagte Bastien, der bei einer Einzelhandelskette in Jacksonville arbeitet.

Er erzählt BuzzFeed, es habe sich wie eine „ständige Bestrafung“ angefühlt, von der Wahl ausgeschlossen zu sein, obwohl er seine Strafe abgebüßt und sein Leben neu organisiert hatte.

„Nicht wählen zu können, lässt einen erneut spüren, dass man nicht mehr Teil der Gesellschaft ist“, sagte Bastien. Dass er jetzt den Eindruck habe, einen Unterschied bewirken zu können, fühle sich gut an: „Das Gefühl, wenn ich tatsächlich zur Wahl gehen und abstimmen kann, wird überwältigend sein.“

Trump oder Biden? Viele Wähler bei US-Wahl ausgeschlossen - NGO sieht Florida als „warnendes Beispiel“

Porter von der Organisation Sentencing Project sagt, die Gesetzgebung in Florida sei „in vielerlei Hinsicht ein warnendes Beispiel“. Zugleich handele es sich bei der Verfassungsänderung des Bundesstaates um die weitreichendste Wiederherstellung des Wahlrechts der Geschichte und zeuge von einem wachsenden Kampf.

In den letzten Jahren erweiterten mehrere Staaten, darunter Iowa, Kentucky* und New Jersey, die Wahlrechte ehemaliger Straftäter. In Kalifornien etwa soll derzeit ein Volksentscheid entwickelt werden, der es ehemaligen Strafgefangenen ermöglichen würde, zu wählen, während sie auf Bewährung sind.

Um das Problem zu lösen, müsse man den Entzug des Wahlrechts bei Straftaten weiterhin anfechten, und darauf hinarbeiten, dass kein Bürger bei strafrechtlichen Auseinandersetzungen sein Wahlrecht verliere, so Porter. „Wir haben immer noch viel zu viele Menschen, die von der Wahl ausgeschlossen sind.“ *BuzzFeed News Deutschland und Merkur.de sind Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.

Stephanie K. Baer

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