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"Die WM wird mit 4000 Toten bezahlt"

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Blick auf das Khalifa-Stadion und Aspire Tower  in Doha, Katar
Blick auf das Khalifa-Stadion und Aspire Tower  in Doha, Katar © picture alliance / dpa

Brüssel - IGB-Generalsekretärin Sharan Burrow spricht im Interview nach den WM-Enthüllungen über Dunkelziffern, enorm hohen Blutzoll und ihre Befürchtungen für die WM-Endrunde in Russland 2018.

Sharan Burrow ist Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB und dadurch oberste Vertreterin von 174 Millionen IGB-Mitgliedern aus 156 Ländern. Nach den Enthüllungen der englischen Zeitung Guardian über „moderne Sklaverei (Burrow) und Todesfälle bei Bauprojekten im Vorfeld der Fußball-WM 2022 in Katar unter Gastarbeitern spricht die 58-Jährige im SID-Interview über Dunkelziffern, enorm hohen Blutzoll und ihre Befürchtungen für die WM-Endrunde in Russland 2018.

Sharan Burrow, aus Katar kommen neun Jahre vor der WM erschütternde Berichte über die Ausbeutung von Gastarbeitern, es geht offensichtlich um Leben und Tod. Wie schlimm ist die Lage? Kann man wirklich von moderner Sklaverei sprechen?

Sharan Burrow (Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB): Ja. Diese Arbeiter sind unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt. Es gibt Fälle, in denen Arbeiter berichten, dass sie keinen Zugang zu sauberem Wasser während der Arbeit haben. Migranten haben keine Möglichkeit, ihr Arbeitsverhältnis zu beeinflussen, sie sind dem Arbeitgeber durch das Kafala-System (Bürgensystem zur Aufnahme von Arbeitskräften, d. Red.) ausgeliefert.

Wie sehen die Schikanen aus? Wie verlieren die Arbeiter ihre Rechte?

Burrow: Bei Ankunft in Katar müssen sie ihre Pässe abgeben, sie dürfen ihren Arbeitsvertrag nicht kündigen. Die Gesetze stehen ihnen selbst grundlegende Rechte nicht zu. Migranten dürfen weder einer Gewerkschaft beitreten noch Tarifverträge mit Arbeitnehmern eingehen, durch die sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern könnten.

Laut Guardian-Recherche sind allein von 4. Juni bis 8. August 44 nepalesische Arbeiter gestorben - die Hälfte entweder an Herzversagen oder bei Arbeitsunfällen. Viele von ihnen sind Männer Mitte 20. Wie viele Todesfälle gibt es wirklich?

Burrow: Offiziell schätzt die nepalesische Botschaft, dass jedes Jahr 200 nepalesische Migranten in Katar sterben. Die indische Botschaft schätzt auch jährlich 200 Tote. Wir sind der Ansicht, dass die wirkliche Todesrate weitaus höher ist, wenn man in Betracht zieht, dass viele der Migranten aus weiteren Ländern wie zum Beispiel aus Sri Lanka oder von den Philippinen kommen.

Stehen die Todesfälle in direktem Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2022?

Burrow: Die Todesfälle sind meistens arbeitsbedingt. Bis zum Beginn der WM wird ungefähr eine halbe Million Migranten in Katar erwartet, die alle direkt an Stadion-Baustellen oder Infrastrukturmaßnahmen arbeiten werden. Wenn sich da nicht sofort etwas ändert, wird die WM mit 4000 toten Arbeitern bezahlt.

Was fordert der Internationale Gewerkschaftsbund als Konsequenz von Katar und dem WM-Organisationskomitee?

Burrow: Katar muss sofort seine Gesetze reformieren und gewährleisten, dass Migranten Arbeiterrechte genießen und alle notwendigen Vorkehrungen für die Sicherheit der Arbeiter getroffen werden. Firmen, die an den Bau- und Infrastrukturarbeiten in Katar beteiligt sind, müssen dafür sorgen, dass dies nicht auf Kosten von Menschenleben geschieht. Daher sollte die katarische Regierung nur Firmen beauftragen, die Arbeiterrechte respektieren.

Sie haben den Fußball-Weltverband FIFA aufgefordert, die WM-Endrunde 2022 nicht auf Basis eines Systems von Sklavenarbeit' auszutragen. Was muss die FIFA tun?

Burrow: Die FIFA sollte Druck auf die Regierung ausüben - und die Weltmeisterschaft nie wieder in einem Land durchführen, in dem Arbeiterrechte und Menschenleben derart verletzt werden!

Auf welchen Informationen basieren Ihre Aussagen? Wer beliefert Sie? Waren Sie selbst vor Ort?

Burrow: Der IGB hat diese Informationen von den Regierungen, aus denen die Arbeiter stammen, und von Berichten der Arbeiter. Ich war selbst mehrmals in Katar und habe die Verhältnisse begutachtet.

Weitere Großereignisse stehen an: Olympische Spiele in Sotschi, WM und Olympia in Brasilien, die WM in Russland. Gibt es bei den Vorbereitungen ähnliche Auswüchse?

Burrow: In Brasilien gab es auch Vorfälle in Bezug auf Arbeitsunfälle und Gehälter. Der Unterschied ist jedoch, dass die rechtliche Grundlage in Brasilien weitaus besser ist. Brasilien hat starke Gewerkschaften, die sich sofort für die betroffenen Arbeiter eingesetzt haben. In Russland besteht jedoch auch die Gefahr, dass die Weltmeisterschaft keine guten und fairen Arbeitsplätze schafft. Die FIFA setzt momentan die russische Regierung stark unter Druck, eine Gesetzesänderung zu verabschieden, durch die das Arbeitsrecht für Migranten in den nächsten fünf Jahren außer Kraft gesetzt werden soll.

sid

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