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„Anne Will“: Wie hart trifft uns die „neue Normalität“?

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Mit Vorsicht aus der Corona-Krise - wie hart trifft uns die "neue Normalität"?
Mit Vorsicht aus der Corona-Krise - wie hart trifft uns die "neue Normalität"? © Screenshot ARD

Die Vertreter der gegensätzlichen Positionen im Umgang mit dem Coronavirus schärfen ihre Argumente: Lockerung oder Vorsicht.

Wir sind jetzt wieder lockerer. Der Bundesgesundheitsminister hat's ja verkündet: Das Virus sei „beherrschbarer“ geworden. Das ist zwar eine unsinnige Formulierung, aber wir haben's dankbar zur Kenntnis genommen und sind raus ins Grüne – massenhaft. Wer dieser Tage zum Beispiel durch den Frankfurter Günthersburgpark spazierte, konnte sich an das sommerliche Open-Air-Festival „Stoffel“ erinnert fühlen: kaum noch Platz auf der Liegewiese. Kein Wunder, der Herr Wieler vom Robert-Koch-Institut hat's doch erklärt: Die Reproduktionsrate lag jetzt bei 0,7, also unter der von der Kanzlerin verkündeten Marge. Schon atmet das Volk auf, schon wollen die Christian Lindners dieser Republik es noch lockerer.

Aber die Zahl von 0,7 ist ein Artefakt, sagt jetzt einer, der es wissen muss: Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Er weist bei Anne Will darauf hin, dass die Rate schon wieder gestiegen ist. Denn über Ostern oder die Wochenenden werden die neuen Infektionszahlen nicht gemeldet, erst danach kommt heraus, wie viele Menschen mehr sich angesteckt haben.

„Anne Will, ARD“: Wissenschaftler für Verlängerung der Einschränkungen

Wir machen uns was vor (weil wir es wollen). Meyer-Hermann war dafür, die Einschränkungen noch um drei Wochen zu verlängern. Der Wissenschaftler legt noch einmal in dankenswerter Klarheit dar, um was es geht: Es gebe zwei Wege: Man lasse die Reproduktionsrate bei eins, mit der Folge, dass die Beschränkungen lange dauern (sehr lange) und das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Oder „wir können versuchen, das Virus auszutrocknen“, mit radikalen Maßnahmen der Kontaktreduzierung, mit Tests und „Tracing“, also der digitalen Erfassung der Kontakte mit Infizierten. So könne man in relativ kurzer Zeit „zu alter Normalität“ zurückkehren. Darüber müsse grundsätzlich entschieden werden.

„Anne Will, ARD“: Peter Altmaier weiß, dass er nichts weiß

Die Bundesregierung und die Länderchefs aber wollen weder das eine noch das andere. Sie wollen peu à peu lockern. Und können es erwartungsgemäß nicht allen recht machen. Wie sehr sie lavieren, ließ Wirtschaftsminister Peter Altmaier erkennen. Angesichts der drohenden Pleite von 70000 Betrieben des Hotel- und Gaststättengewerbes wird eine Senkung der Mehrwertsteuer verlangt. Während bei Sachsens Landeschef Michael Kretschmer (CDU) das bei Anne Will in Aussicht stellte, wollte sein Parteifreund Altmaier „sich den Vorschlag genau anschauen“. Man müsse ja erstmal klären, was akut notwendig ist. Und als der Minister dann noch „tatsächliche Wirkungszusammenhänge“ wissen will, interveniert die Moderatorin zu Recht. Denn selbstverständlich weiß Altmaier, dass er so schnell nichts wissen wird, weil derzeit niemand wirklich etwas genaues über diese „Wirkungszusammenhänge“ des Virus weiß.

Die Politiker wollen vorsichtig sein. Die Unternehmer wollen Perspektiven sehen, die ihnen die Regierenden nicht geben können. Kretschmer formuliert, man gehe an die Grenze dessen, was vertretbar ist. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, kritisiert, man hätte Termine nennen können, was die Öffnung bei Hotels und Gaststätten betrifft. Und vor allem hätte man früher über die Schulen nachdenken könne. Denn es gebe nicht nur das eine Risiko. Es gehe auch um Bildungsgerechtigkeit. Der Staat verfolge einen „sehr paternalistischen Ansatz“, findet der Wirtschaftsführer und muss sich vom Landespolitiker sagen lassen, er verkenne die Dramatik. Eine „Normalisierung“ könne es erst mit dem Impfstoff geben.

„Anne Will, ARD“: Wie hart trifft uns die "neue Normalität"?

Mit Vorsicht aus der Corona-Krise – wie hart trifft uns die "neue Normalität"? lautete Wills Thema, und diese ominöse „neue Normalität“ hatte jüngst Vizekanzler Olaf Scholz als unsere Zukunft an die Wand gemalt. „Eine irreführende Begriffswahl“, urteilt Juristin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Sie prophezeit: Je länger die aktuelle Beschneidung der Grundrechte anhält, desto genauere Begründungen für konkrete Maßnahmen werden die Gerichte wollen. Der Verdacht, einige Eingriffe in unsere Grundrechte könnten bestehen bleiben, wurde durch Olaf Scholz' Formulierung nicht gerade entkräftet. Die Freidemokratin fordert, es gelte, Möglichkeiten der Teilhabe abzuwägen.

Corona-Talk bei Maybrit Illner: Christian Lindner offenbart mal wieder seine Ignoranz

Das ist Michael Hüthers großes Anliegen: die Teilhabe an Bildung. Er plädiert energisch für eine frühere Öffnung der Schulen, wie es das Institut der Leopoldina ja angeregt hatte. Aber deren Vorschläge hat die Regierung nicht umgesetzt. Peter Altmaier umschwafelt Anne Wills Frage nach dem Grund dafür, Michael Kretschmer findet „alles gut vorbereitet“, nach dem 4. Mai folge der nächste Schritt. Hüther insistiert: Bildungserfolg hänge mit Kontakt zusammen, die Präsenz der Erzieher sei entscheidend; er fürchtet, in Hessen komme keine Kind mehr vor den Sommerferien in die Schule. Kretschmer hält dagegen: Nur ein Corona-Fall bei 300 Schülern, und die Infektion sei nicht mehr nachzuverfolgen, Gesundheit sei das A und O. „Aber aus dieser Nummer kommen Sie doch nie raus“, ruft da Hüther.

Die Corona-Krise und das Bedürfnis nach Lockerung

Das könnte in der Tat das Problem der kommenden Monate oder gar Jahre sein, „diese Nummer“ – oder eben auch „neue Normalität“. Denn, so gibt Forscher Mayer-Hermann zu bedenken, es gebe bei allen Maßnahmen einen „Deckel“, weil bei zu früher Lockerung eine exponentielle Steigerung der Ansteckungen folgen werde. „Wir können nicht eben mal ausprobieren.“ Man wisse immer erst zwei Wochen nach einer Maßnahme, ob und wie sie gewirkt hat. Im übrigen hält er den behaupteten Gegensatz zwischen Gesundheitspolitik und Wirtschaft für falsch. Man brauche die Zusammenarbeit von Epidemiologen und Wirtschaftswissenschaftlern, um das Optimum für beide Seiten zu ermitteln. Wenn man ihnen denn die Zeit gibt, vor lauter Bedürfnis nach Lockerung...

Von Daland Segler

Zur Sendung „Anne Will“

ARD, von Sonntag, 19. April, 21.45 Uhr. Die Sendung „Anne Will“: Mit Vorsicht aus der Corona-Krise“ im Netz.

In der Folgesendung hat Anne Will mit ihren Gästen über eine Lockerung der Corona-Maßnahmen diskutiert. 

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