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ARD-Talk mit Anne Will : Gut betuchte Politiker lassen sich über die Mittelschicht aus

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Anne Will und ihre Gäste in der Diskussion über „Volle Staatskassen, leere Portmonnaies“
Anne Will und ihre Gäste in der Diskussion über „Volle Staatskassen, leere Portmonnaies“ © Screenshot/ARD

Bei Anne Will saß eine Runde gut betuchter Politiker und ließ sich über die Mittelschicht, oder was sie dafür hielten, aus.

Berlin – Wenn er es gar nicht mehr aushält, der brave Christdemokrat, dann verlegt er sich aufs Loben. Er müsse doch mal sagen, dass wir in einem guten Land lebten; aber in diesen Talkshows werde immer das Negative betont: „Wir reden uns da in eine Depression rein“, klagte Ralph Brinkhaus, Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, bei Anne Will

ARD-Talk mit Anne Will: Diskussion um Rente und Steuern

Zuvor hatte nämlich Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, ein paar unschöne Tatsachen aus diesem guten Land aufgezählt: Dass jeder zweite neu geschlossene Arbeitsvertrag befristet sei, dass die Bundesregierung den abhängig Beschäftigten sage: Sorgt vor, eure Rente wird nicht reichen, aber die Hälfte der Rentenbezieher nur diese Rente habe; dass 400000 Stellen im Bildungssystem und 100000 im Bereich Pflege fehlten, und dass die Menschen unter zu hohen Sozialversicherungsbeiträgen ächzten: „Wir fahren auf Verschleiß!“

Anne Will (ARD): „Volle Staatskassen, leere Portemonnaies“

„Volle Staatskassen, leere Portemonnaies – wird jetzt die Mittelschicht entlastet?“ lautete das Thema bei Anne Will, und da saß dann eine Runde gut betuchter Politiker und ließ sich über die Armen aus. Ob sich das geneigte Publikum klarmacht, dass ein großer Teil der Gäste in diesen Runden sich entweder zu den Millionären zählen kann oder zumindest sein Schäfchen ins Trockene gebracht hat (die Gastgeberinnen eingeschlossen)?

Dieser Abend bestätigte jedenfalls eine gewisse Distanz der Volksvertreter zu den von ihnen angeblich Vertretenen. Als SPD-Chef Norbert Walter-Borjans eigens einen Steuerbescheid aus der Tasche zog, um mal mit realistischen Zahlen zu argumentieren, konnte ihm Schneider, auch engagiert bei der Linken, vorrechnen, dass die Fachkraft auf etwa 58000 Euro und ein Geselle auf 48000 Euro im Jahr kämen und somit nichts mit dem Spitzensteuersatz zu tun haben könnten.

Um den ging es geraume Zeit, weil den heute entrichten muss, wer über das Doppelte (und nicht wie vor Jahren über das Fünffache) des Durschnittseinkommens verfügt. Aber wer ist die „Mittelschicht“? Anette Dowideit, Chefreporterin Investigativteam der Welt, hat ein Buch darüber geschrieben („Die Angezählten“) und nannte als Repräsentanten der Mittelschicht Krankenschwestern, Facharbeiter, Flugbegleiter, aber auch Piloten (!). Diese Menschen hätten früher das Gefühl haben können, sie seien „angekommen“ – heute jedoch seien sie von Unsicherheit erfasst durch die hohen Belastungen und fragten sich: „Wofür zahl’ ich das eigentlich alles?“

Anne Will (ARD): Christian Lindner macht Unterschied zwischen „Bedürftigen“ und „Gesellschaftsträgern“

Das war der Anlass für die Sendung gewesen, wie im Einspieler zu Beginn dargestellt: Der Bund verfüge über einen „Rekord“-Überschuss, warum gebe die Regierung das nicht an die Bürgerinnen und Bürger weiter? Finanzminister Olaf Scholz hatte recht plötzlich von einer teilweisen Abschaffung des Soli schon zur Jahresmitte gesprochen, im Koalitionsausschuss kam das Thema zur Sprache, wurde aber vertagt. Auf Anne Wills Frage warum, entspann sich ein Hickhack zwischen Brinkhaus und Walter-Borjans, worauf FDP-Chef Christian Lindner den Streitenden eine Paartherapie empfahl. Das war aber auch der einzige originelle Beitrag des Liberalen, der tatsächlich glaubte, einen Unterschied machen zu müssen zwischen den „Bedürftigen“ und denen, „die unsere Gesellschaft tragen“. Zynischer geht’s kaum.

Im Streit um die Soli-Abschaffung argumentierte der Sozialdemokrat, die frühere Aufhebung werde die Kaufkraft stärken, der Christdemokrat wollte „erst ein vernünftiges Konzept“. Wie überhaupt Brinkhaus auf Kritik, etwa an fehlendem Wohnraum, vage argumentierte: „Da sind wir dran“. Gegen die Wohnungsknappheit helfe nur „bauen, bauen, bauen“. Ob das den Polizisten in Nordrhein-Westfalen helfen wird, die sich im Zweitjob als Pizza-Ausfahrer verdingen, weil sie sich die Wohnung sonst nicht leisten können? Die Zahl der Menschen mit einem zweiten Job ist von 1,9 auf 3,5 Millionen gestiegen.

Anne Will (ARD): „Umbau“ für ein „gutes Land“ 

Also vielleicht doch nicht nur bauen: Anette Dowideit wies auf die Gefahr hin, dass die Infrastruktur auf Dauer gefährdet sei, wenn die Beschäftigten immer weitere Wege zu ihren Arbeitsplätzen zurücklegen müssten, und führte als Beispiel für Alternativen das Genossenschaftsmodell in Wien an. Ulrich Schneider ging noch weiter und forderte einen „Umbau“. Man müsse „neu denken“, etwa ein System, bei dem alle Erwerbstätigen in die Rentenkasse einzahlen – also auch Beamte. Das wurde noch auf jeder Talkshow mit sozialer Thematik aufs Tapet gebracht, aber auch hier nicht weiter verfolgt. Denn so ein „Umbau“, das ginge denen, die sich’s gemütlich eingerichtet haben in diesem „guten Land“, dann doch zu weit...

Anne Will, ARD, von Sonntag, 2. Februar, 21.45 Uhr oder auf https://daserste.ndr.de/annewill/

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