Dieses im europäischen Vergleich quasi einmalige Handeln polarisierte. Kritiker warfen Tegnell vor, die Lage zu unterschätzen und argumentierten mit einer hohen Sterberate sowie einem deutlich ausfallenden Skandinavien-Vergleich. Auch wenn man sich die Sterberate pro 100.000 Einwohner ansieht, kommt Schweden eher schlecht weg. Während in Deutschland statistisch gesehen 11 Personen pro 100.000 Einwohnern an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung sterben, sind es in Schweden 56 und damit fünfmal mehr. (Stand: 6. August).
Mittlerweile sinken in Schweden jedoch zumindest die Infektionszahlen wieder. So zählte das rund 10-Millionen-Einwohner-Land am 24. Juni etwa noch 1.803 neue Corona-Fälle pro Tag. Mittlerweile sind es weniger als 400 Neuinfektionen (Quelle: Johns Hopkins-Universität) . Die Lage ist also vergleichsweise entspannt, Zeit für Anders Tegnell ein kleines Fazit zu ziehen. In einem Interview mit der Bild (Artikel hinter Bezahlschranke) verteidigte der 64-Jährige seine Strategie und lieferte erneut einige Aussagen, die man von so manchem seiner europäischen Berufskollegen wohl eher nicht hören würde.
„Zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können, ist sehr gefährlich.“
So sagte Tegnell, der im Land einen hohen Status innehat, etwa zu einer allgemeinen Maskenpflicht im Land: „Das Resultat, das man durch die Masken erzeugen konnte, ist erstaunlich schwach, obwohl so viele Menschen sie weltweit tragen. Es überrascht mich, dass wir nicht mehr oder bessere Studien darüber haben, welche Effekte die Masken tatsächlich herbeiführen. Länder wie Spanien oder Belgien haben ihre Bevölkerung Masken tragen lassen – trotzdem gingen die Infektionszahlen hoch. Zu glauben, dass Masken unser Problem lösen können, ist jedenfalls sehr gefährlich.“
Auch in puncto Schulschließungen hat der Staatsepidemiologe eine klare Meinung: „Wir sind sehr glücklich, dass wir unsere Schulen geöffnet lassen konnten. Kinder in Schweden hatten dadurch die Möglichkeit, weiter zur Schule zu gehen. Unsere finnischen Kollegen entschieden sich wie Deutschland für eine Schulschließung, wir ließen sie dagegen geöffnet.“ Negative Konsequenzen hätten sich daraus nicht ergeben, denn „anhand der Daten, die uns vorliegen, können wir nicht sagen, dass das irgendeinen Unterschied für die Pandemie als solche gemacht hat.“
Wie bereits einige Wochen zuvor im schwedischen Fernsehen gab sich Tegnell jedoch auch selbstkritisch. Er sprach vor allem die hohen Todeszahlen der älteren Bevölkerung an, die auch unter deutschen Medizinern und Virologen in der Kritik stehen: „Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben.“
Führende Wissenschaftler weltweit* befürchten indes, dass es im (Spät-)Herbst zu einer zweiten Infektionswelle kommen könnte. Sollte dieses Szenario eintreten, werden Schweden und Tegnell wohl erneut auf Freiwilligkeit setzen, denn „es ist schwedische Tradition, dass wir dem Einzelnen viel Verantwortung geben.“
Unterdessen sitzen acht deutsche Touristen nach positiven Coronatests in einer kleinen Hütte fest. (as) *merkur.de ist Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks