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Wilke Wurstwaren: Ausländisches Personal wurde systematisch ausgebeutet und "wie Vieh gehalten"

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Müllcontainer: Dieses Foto wurde vor einem Haus in Berndorf aufgenommen, das von mehreren ehemaligen ausländischen Wilke-Arbeitern bewohnt wird.
Müllcontainer: Dieses Foto wurde vor einem Haus in Berndorf aufgenommen, das von mehreren ehemaligen ausländischen Wilke-Arbeitern bewohnt wird. © Stefanie Rösner

Arbeiten ohne Vertrag, zwölf Stunden am Tag und mehr, das war nach unseren Recherchen über Jahre Alltag bei der Firma Wilke Waldecker Wurstwaren.

Auch Arbeitsverträge die über eine Kfz-Werkstatt und andere Betriebe mit dubiosen Machenschaften liefen, hat es bei Wilke gegeben. Zumindest für ausländische Arbeiter, die bei Wilke über Werkunternehmen beschäftigt gewesen sein sollen, waren die Arbeitsbedingungen höchst fragwürdig. 

Der Zoll hat den Betrieb nach Auskunft von Michael Bender, Sprecher des Hauptzollamtes Gießen, zuletzt 2014 kontrolliert. Damals habe es eine allgemeine Überprüfung auf Schwarzarbeit gegeben, ohne einen Verdacht zu haben. Laut Bender wurde nichts beanstandet.

Hauptzollamt Gießen: Unmittelbare Kontrollen nicht möglich

Der Sprecher sagte jedoch, dass sich innerhalb von fünf Jahren wegen der wirtschaftlichen Entwicklung in der Fleischbranche und damit verbundenem finanziellem Druck viel verändern könne. Er räumte ein, dass unmittelbare Kontrollen in den Abteilungen oder gar in den Unterkünften der Beschäftigten nicht ohne Weiteres möglich gewesen seien. 

Werkunternehmensverträge in der fleischverarbeitenden Brache üblich

Erst ein neues Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch, das im Juli dieses Jahres in Kraft getreten ist, würde Untersuchungen erleichtern. Werkunternehmensverträge seien in der fleischverarbeitenden Branche üblich. Das heißt, dass in diesem Fall der Wursthersteller Arbeiten eingekauft hat, damit er sie selbst nicht erledigen muss („Outsourcing“).

Ausländische Mitarbeiter mit Versprechen gelockt

Doch nach Informationen unserer Zeitung sind die Umstände, unter denen Werkunternehmer die Arbeiter beschäftigen, äußerst bedenklich. Die Menschen sind in ihren Heimatländern wie Ungarn und Rumänien damit angelockt worden, in Deutschland innerhalb einiger Monate viel Geld verdienen zu können, berichten einige gegenüber unserer Zeitung.

Überstunden für ausländische Mitarbeiter standen auf der Tagesordnung

Doch Versprechen wurden nicht eingehalten: Die 40-Stunden-Woche wurde bei Wilke stets überschritten, sagt ein Mann, der erst seit dem Sommer dort gearbeitet hat und auf sein Heftchen verweist, in dem er seine Stunden notiert hat. Von 6 bis 18 Uhr, oft länger, jeden Tag, Montag bis Sonntag. Die Deutschen machten nachmittags Feierabend, die Ausländer Stunden später. „Mir war gesagt worden, dass die Wochenenden frei seien. Das waren sie aber nie“, sagt er auf Englisch. Deutsch spricht er ebenso wenig wie viele seiner ausländischen Kollegen.

Viele Werkarbeiter arbeiteten ohne Arbeitsvertrag bei Wilke

Auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag wartete er vergeblich, obwohl er das Werkunternehmen, das Rumänen beschäftigt, mehrmals darum gebeten hatte. Nach einem Gefühl der Ungewissheit und Bangen am Wochenende hatte er erst diese Woche Montag einen Gesprächstermin, wo ihm ein Teil des Gehaltes, das sein Arbeitgeber ihm schuldet, in bar ausgezahlt wurde. 

Ähnlich sei es seinen Kollegen ergangen. Zudem erhielt er erst am Montag seinen Arbeitsvertrag mit dem Unternehmen „Agriserv Europa Meat – The Outsourcing Company“, das seinen Sitz in Rietberg (NRW) hat. Laut diesem Vertrag ist der Mann als Verpacker angestellt.

Arbeitsverträge auch nach der Schließung von Wilke noch ausgestellt

Zu einem Zeitpunkt also, nachdem der fleischverarbeitende Betrieb Wilke längst amtlich geschlossen worden ist, bekommt er es schwarz auf weiß: „Dem Arbeitnehmer ist bekannt, dass er regelmäßig auch an Sams-, Sonn- und Feiertagen arbeiten wird.“ Laut Arbeitszeitgesetz ist das regelmäßige Arbeiten an Wochenenden und Überschreiten von acht beziehungsweise ausnahmsweise zehn Stunden täglich für Angestellte in Deutschland nicht zulässig. Das bestätigt der Korbacher Fachanwalt für Arbeitsrecht Matthias Schulze auf Anfrage.

Was dem Mann zusätzlich zugemutet wird: „Mit einer Vorankündigung von 24 Stunden ist der Arbeitnehmer verpflichtet, den Einsatzort zu wechseln.“ Das könne während der Vertragslaufzeit mehrfach vorkommen. Einer der Einsatzorte: Rheda-Wiedenbrück. Der Hauptsitz von Tönnies, des größten deutschen Schlachtbetriebes.

Arbeitsverträge nach deutschem Recht rechtswidrig

Der Jurist Schulze geht davon aus, dass es sich wegen des Firmensitzes in Deutschland und aufgrund des uns vorliegenden Papiers um einen Arbeitsvertrag handelt, der auf deutschem Arbeitsrecht beruht. Demzufolge wäre regelmäßiges Arbeiten an Wochenenden rechtswidrig. Auch bei der Forderung, jederzeit den Einsatzort zu wechseln, sei im Einzelfall zu entscheiden, ob eine 24-Stunden-Frist zumutbar sei.

Wilke-Arbeiter: Einige arbeiteten ohne Krankenversicherung 

Der Mann hat in den vergangenen Wochen durch die Tätigkeit in der Wurstfabrik eine Verletzung davongetragen. Seitdem habe er zum Arzt gewollt, doch eine Krankenversicherung habe er nicht. Das zuständige Unternehmen Agriserv Europa Meat wollte zu all den Anschuldigungen trotz Nachfrage keine Stellung nehmen. Der Mann betonte in Gesprächen mit unserer Zeitung wiederholt, dass sein Name nicht genannt werden dürfe, da er sonst befürchte, das ihm zustehende Gehalt nicht zu bekommen und sogar noch mehr aufs Spiel zu setzen.

Gemeinde Twistetal äußert sich nicht zu Meldezahlen

Er hat in einem Haus in der Gemeinde Twistetal gewohnt – nicht wie ihm versprochen worden war in einem Zimmer für zwei, sondern für sechs Menschen. Auf die Frage nach der Anzahl der gemeldeten Personen in den Häusern in Twistetal, in denen ausländische Arbeiter der Firma Wilke wohnten, antwortete Bürgermeister Stefan Dittmann: „Die Gemeinde wird sich dazu zunächst nicht äußern.“

So bleibt auch offen, ob jemals kontrolliert wurde, ob alle Bewohner angemeldet waren. Unser Informant zeigte uns ein Dokument, das ihm vom Vorgesetzten ausgehändigt wurde, auf dem ein Wohnsitz in einer anderen Stadt angegeben war, obwohl er in Twistetal wohnte. Er will jetzt so schnell wie möglich in seine Heimat zurück.

Ausländische Mitarbeiter lebten wie in einer Parallelwelt

Wie in einer Parallelwelt müssen auch die Zustände für Ungarn gewesen sein, die zum Teil in der Bahnhofstraße in Vöhl-Thalitter, auf dem Gelände von Karin Zalzadeh, gelebt haben. Die Vermieterin und ihr Ehemann Abbas Zalzadeh haben sich zu undurchsichtigen Geschäften ihres ehemaligen Mieters gegenüber unserer Zeitung geäußert. 

Wilke-Skandal: Abbas Zalzadeh hat sich zu undurchsichtigen Geschäften ihres ehemaligen Mieters gegenüber unserer Zeitung geäußert.
Wilke-Skandal: Abbas Zalzadeh hat sich zu undurchsichtigen Geschäften ihres ehemaligen Mieters gegenüber unserer Zeitung geäußert. © -

Bis zu 50 Arbeiter in einem Haus untergebracht - "Menschen wurden gehalten wie Vieh"

Seit April 2016 hatten sie eine Werkstatt sowie ein Haus auf ihrem Betriebsgelände neben der Bundesstraße an die ARS GmbH vermietet. Norbert Gyöngyösi-Pap, der Geschäftsführer von ARS – laut Handelsregister ist die Firma eine Kfz-Werkstatt – hatte beteuert, dass er selbst in dem Haus wohnen wollte. Zalzadeh: „Nach und nach kamen aber immer mehr Menschen, die dort gehalten wurden wie Vieh.“ 

Er habe sich ausgenutzt gefühlt und bei der Gemeinde eine Liste mit den gemeldeten Bewohnern angefordert. Nach Auskunft der Gemeinde Vöhl waren zwischen Mai 2016 und Juni 2018 50 Menschen dort gemeldet – als Bewohner eines einzigen Hauses. Manche blieben „recht kurz“, andere lebten dort bis zu zwei Jahre. Doch bei der Gemeinde scheinen keine Zweifel aufgekommen zu sein. „Die ARS Service Kft., die als Dienstleister für Wilke auftrat, ist hier nicht auffällig geworden“, sagt Vöhls Bürgermeister Matthias Stappert. 

Kfz-Werkstatt in Korbach beschäftigte Werkarbeiter für Wilke

In Korbach betreibt Norbert Gyöngyösi-Pap übrigens eine Kfz-Werkstatt mit dem Namen ARS Service Kft. in der Marienburger Straße. Unserer Zeitung gegenüber hatte er am Freitag behauptet, sein „Werkunternehmen“ beschäftige nur Personal bei Wilke. Wegen der Schließung der Wurstfabrik müsse auch seine Firma voraussichtlich Insolvenz anmelden. Nach unseren Informationen befindet sich Gyöngyösi-Pap mittlerweile in Ungarn. Ausgerechnet am Samstag, 5. Oktober, vier Tage nachdem sein langjähriger Geschäftspartner und Wilke-Chef Klaus Rohloff seinen Wurstbetrieb hat schließen müssen, hat der Ungar geheiratet. Fotos davon hat er auf Facebook gepostet. Auf Anrufe reagiert er nicht mehr. 

Betreiber der Kfz-Werkstatt ist nicht mehr zu erreichen

Ein weiterer Vermieter Gyöngyösi-Paps in Hillershausen, in dessen Haus auch Wilke-Arbeiter leben, sagt: „Ich kann ihn seit einer Woche nicht mehr erreichen.“ Laut Abbas Zalzadeh hat „ARS“ auf dem Gelände in Vöhl illegale Geschäfte betrieben. In der Kfz-Werkstatt sei nicht vorschriftsmäßig gehandelt worden. „Überall tropfte Öl und gelangte ins Abwasser.“ Nach und nach standen immer mehr Autos und Transporter auf dem Gelände, die Durchfahrt wurde zugeparkt, sagt Zalzadeh. Es habe ein Handel mit gefälschten Papieren stattgefunden. Zudem hätte der Mieter haufenweise Dreck, Müll und Schimmel im und am Wohnhaus hinterlassen. Aufnahmen davon zeigte Zalzadeh unserer Zeitung. 

Untragbare hygienische Umstände in Wohnunterkünften der Arbeiter

Außerdem hätten die Bewohner ihm von untragbaren hygienischen Umständen nicht nur im Wohnhaus, sondern auch von fragwürdigen Bedingungen an ihrer Arbeitsstelle bei Wilke Waldecker Wurstwaren berichtet. „Die durften während ihrer Zwölf-Stunden-Schichten nur einmal zur Toilette gehen.“ Dem Mieter wurde gekündigt, doch noch immer seien nicht alle Schlüssel zurückgegeben worden. „Und ein Schrottauto steht immer noch auf unserem Gelände.“ 

Bis Juni 2018 war ARS als Gewerbe in Vöhl angemeldet. Bereits am 17. Mai 2018 hatte der Geschäftsführer Insolvenz angemeldet, bestätigt der damit betraute Insolvenzverwalter, Rechtsanwalt Hartmut H. Mitze aus Frankenberg. Auf die Frage nach den Tätigkeiten der Firma antwortet Mitze: „Nach Mitteilung des Geschäftsführers und nach Sichtung der Geschäftsunterlagen hat die Insolvenzschuldnerin Transportdienstleistungen angeboten. Ob zudem noch Leiharbeitnehmer vermittelt wurden, ist hier nicht bekannt.“ Für die Firma Wilke Wurstwaren habe ARS solche Transportleistungen ausgeführt, doch inwieweit war die Personalvermittlung legitim? Der Kanzlei Mitzes liegen jedenfalls keine Unterlagen zu einem Werkunternehmervertrag vor.

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