Auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag wartete er vergeblich, obwohl er das Werkunternehmen, das Rumänen beschäftigt, mehrmals darum gebeten hatte. Nach einem Gefühl der Ungewissheit und Bangen am Wochenende hatte er erst diese Woche Montag einen Gesprächstermin, wo ihm ein Teil des Gehaltes, das sein Arbeitgeber ihm schuldet, in bar ausgezahlt wurde.
Ähnlich sei es seinen Kollegen ergangen. Zudem erhielt er erst am Montag seinen Arbeitsvertrag mit dem Unternehmen „Agriserv Europa Meat – The Outsourcing Company“, das seinen Sitz in Rietberg (NRW) hat. Laut diesem Vertrag ist der Mann als Verpacker angestellt.
Zu einem Zeitpunkt also, nachdem der fleischverarbeitende Betrieb Wilke längst amtlich geschlossen worden ist, bekommt er es schwarz auf weiß: „Dem Arbeitnehmer ist bekannt, dass er regelmäßig auch an Sams-, Sonn- und Feiertagen arbeiten wird.“ Laut Arbeitszeitgesetz ist das regelmäßige Arbeiten an Wochenenden und Überschreiten von acht beziehungsweise ausnahmsweise zehn Stunden täglich für Angestellte in Deutschland nicht zulässig. Das bestätigt der Korbacher Fachanwalt für Arbeitsrecht Matthias Schulze auf Anfrage.
Was dem Mann zusätzlich zugemutet wird: „Mit einer Vorankündigung von 24 Stunden ist der Arbeitnehmer verpflichtet, den Einsatzort zu wechseln.“ Das könne während der Vertragslaufzeit mehrfach vorkommen. Einer der Einsatzorte: Rheda-Wiedenbrück. Der Hauptsitz von Tönnies, des größten deutschen Schlachtbetriebes.
Der Jurist Schulze geht davon aus, dass es sich wegen des Firmensitzes in Deutschland und aufgrund des uns vorliegenden Papiers um einen Arbeitsvertrag handelt, der auf deutschem Arbeitsrecht beruht. Demzufolge wäre regelmäßiges Arbeiten an Wochenenden rechtswidrig. Auch bei der Forderung, jederzeit den Einsatzort zu wechseln, sei im Einzelfall zu entscheiden, ob eine 24-Stunden-Frist zumutbar sei.
Der Mann hat in den vergangenen Wochen durch die Tätigkeit in der Wurstfabrik eine Verletzung davongetragen. Seitdem habe er zum Arzt gewollt, doch eine Krankenversicherung habe er nicht. Das zuständige Unternehmen Agriserv Europa Meat wollte zu all den Anschuldigungen trotz Nachfrage keine Stellung nehmen. Der Mann betonte in Gesprächen mit unserer Zeitung wiederholt, dass sein Name nicht genannt werden dürfe, da er sonst befürchte, das ihm zustehende Gehalt nicht zu bekommen und sogar noch mehr aufs Spiel zu setzen.
Er hat in einem Haus in der Gemeinde Twistetal gewohnt – nicht wie ihm versprochen worden war in einem Zimmer für zwei, sondern für sechs Menschen. Auf die Frage nach der Anzahl der gemeldeten Personen in den Häusern in Twistetal, in denen ausländische Arbeiter der Firma Wilke wohnten, antwortete Bürgermeister Stefan Dittmann: „Die Gemeinde wird sich dazu zunächst nicht äußern.“
So bleibt auch offen, ob jemals kontrolliert wurde, ob alle Bewohner angemeldet waren. Unser Informant zeigte uns ein Dokument, das ihm vom Vorgesetzten ausgehändigt wurde, auf dem ein Wohnsitz in einer anderen Stadt angegeben war, obwohl er in Twistetal wohnte. Er will jetzt so schnell wie möglich in seine Heimat zurück.
Wie in einer Parallelwelt müssen auch die Zustände für Ungarn gewesen sein, die zum Teil in der Bahnhofstraße in Vöhl-Thalitter, auf dem Gelände von Karin Zalzadeh, gelebt haben. Die Vermieterin und ihr Ehemann Abbas Zalzadeh haben sich zu undurchsichtigen Geschäften ihres ehemaligen Mieters gegenüber unserer Zeitung geäußert.
Seit April 2016 hatten sie eine Werkstatt sowie ein Haus auf ihrem Betriebsgelände neben der Bundesstraße an die ARS GmbH vermietet. Norbert Gyöngyösi-Pap, der Geschäftsführer von ARS – laut Handelsregister ist die Firma eine Kfz-Werkstatt – hatte beteuert, dass er selbst in dem Haus wohnen wollte. Zalzadeh: „Nach und nach kamen aber immer mehr Menschen, die dort gehalten wurden wie Vieh.“
Er habe sich ausgenutzt gefühlt und bei der Gemeinde eine Liste mit den gemeldeten Bewohnern angefordert. Nach Auskunft der Gemeinde Vöhl waren zwischen Mai 2016 und Juni 2018 50 Menschen dort gemeldet – als Bewohner eines einzigen Hauses. Manche blieben „recht kurz“, andere lebten dort bis zu zwei Jahre. Doch bei der Gemeinde scheinen keine Zweifel aufgekommen zu sein. „Die ARS Service Kft., die als Dienstleister für Wilke auftrat, ist hier nicht auffällig geworden“, sagt Vöhls Bürgermeister Matthias Stappert.
In Korbach betreibt Norbert Gyöngyösi-Pap übrigens eine Kfz-Werkstatt mit dem Namen ARS Service Kft. in der Marienburger Straße. Unserer Zeitung gegenüber hatte er am Freitag behauptet, sein „Werkunternehmen“ beschäftige nur Personal bei Wilke. Wegen der Schließung der Wurstfabrik müsse auch seine Firma voraussichtlich Insolvenz anmelden. Nach unseren Informationen befindet sich Gyöngyösi-Pap mittlerweile in Ungarn. Ausgerechnet am Samstag, 5. Oktober, vier Tage nachdem sein langjähriger Geschäftspartner und Wilke-Chef Klaus Rohloff seinen Wurstbetrieb hat schließen müssen, hat der Ungar geheiratet. Fotos davon hat er auf Facebook gepostet. Auf Anrufe reagiert er nicht mehr.
Ein weiterer Vermieter Gyöngyösi-Paps in Hillershausen, in dessen Haus auch Wilke-Arbeiter leben, sagt: „Ich kann ihn seit einer Woche nicht mehr erreichen.“ Laut Abbas Zalzadeh hat „ARS“ auf dem Gelände in Vöhl illegale Geschäfte betrieben. In der Kfz-Werkstatt sei nicht vorschriftsmäßig gehandelt worden. „Überall tropfte Öl und gelangte ins Abwasser.“ Nach und nach standen immer mehr Autos und Transporter auf dem Gelände, die Durchfahrt wurde zugeparkt, sagt Zalzadeh. Es habe ein Handel mit gefälschten Papieren stattgefunden. Zudem hätte der Mieter haufenweise Dreck, Müll und Schimmel im und am Wohnhaus hinterlassen. Aufnahmen davon zeigte Zalzadeh unserer Zeitung.
Außerdem hätten die Bewohner ihm von untragbaren hygienischen Umständen nicht nur im Wohnhaus, sondern auch von fragwürdigen Bedingungen an ihrer Arbeitsstelle bei Wilke Waldecker Wurstwaren berichtet. „Die durften während ihrer Zwölf-Stunden-Schichten nur einmal zur Toilette gehen.“ Dem Mieter wurde gekündigt, doch noch immer seien nicht alle Schlüssel zurückgegeben worden. „Und ein Schrottauto steht immer noch auf unserem Gelände.“
Bis Juni 2018 war ARS als Gewerbe in Vöhl angemeldet. Bereits am 17. Mai 2018 hatte der Geschäftsführer Insolvenz angemeldet, bestätigt der damit betraute Insolvenzverwalter, Rechtsanwalt Hartmut H. Mitze aus Frankenberg. Auf die Frage nach den Tätigkeiten der Firma antwortet Mitze: „Nach Mitteilung des Geschäftsführers und nach Sichtung der Geschäftsunterlagen hat die Insolvenzschuldnerin Transportdienstleistungen angeboten. Ob zudem noch Leiharbeitnehmer vermittelt wurden, ist hier nicht bekannt.“ Für die Firma Wilke Wurstwaren habe ARS solche Transportleistungen ausgeführt, doch inwieweit war die Personalvermittlung legitim? Der Kanzlei Mitzes liegen jedenfalls keine Unterlagen zu einem Werkunternehmervertrag vor.
Der Listerien-Skandal bei Wilke mit mindestens zwei Todesopfern zieht mittlerweile weite Kreise - warum haben die Behörden nicht schneller reagiert? Wir erklären, wie die Kontrollen der Lebensmittelüberwachung in Deutschland ablaufen und was Verbraucher tun können.